Hans Fallada, Lilly und ihr Sklave. Mit unveröffentlichten Erzählungen. Herausgeber/in Johanna Preuß-Wössner,Peter Walther. Aufbau Verlag. 269 Seiten. 22,00 €
Über die frühe Biografie Hans Falladas ist vieles bekannt: Dass er im Dauerkonflikt mit seinem Vater, einem hohen Richter, lebte, dass er unter Depressionen und in der Folge unter massiver Drogenabhängigkeit litt, zahlreiche Aufenthalte in psychiatrischen Anstalten und 1926 sogar für zweieinhalb Jahre im Gefängnis hinter sich bringen musste. Nicht bekannt war bisher, dass er diesen Gefängnisaufenthalt bewusst dazu nutzte, seine schriftstellerischen Fähigkeiten zu erproben und auszubauen. Das geht aus der 2011 wiedergefundenen Akte des damaligen psychiatrischen Gutachters hervor. In ihr fanden sich fünf frühe, zum Teil bisher unbekannte Erzählungen des Schriftstellers, die jetzt, zwei davon zum ersten Mal, neu veröffentlicht werden.
Im Februar 1926 stand Rudolf Ditzen, der sich als Schriftsteller seit 1920 Hans Fallada nannte, vor Gericht. Um seine Morphinsucht und Eskapaden mit Prostituierten zu finanzieren, hatte er als landwirtschaftlicher Gutsverwalter einige tausend Mark unterschlagen. Seine bisherige psychiatrische Karriere legte allerdings erhebliche Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit nahe. Doch der Gutachter Ernst Ziemke beschäftigte sich ausführlich mit dem Fall und erklärte Fallada schließlich für voll schuldfähig. Das Gericht verurteilte ihn zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe. – Genau das war es, was er gewollt hatte.
Ich habe unterschlagen, nicht um Geld an mich zu bringen, sondern um eine lange Gefängnisstrafe zu erhalten. Ich sehe darin meine einzige Rettung.
Schreibt Fallada aus dem Gefängnis an eine Tante. – In der Tat hatte er die lange Gefängnisstrafe provoziert, um sich von seinen diversen Süchten zu kurieren. Dafür aber um so vollständiger einer anderen Sucht hinzugeben. Dem Schreiben. – Fünf Erzählungen lagen in der Akte mit dem Gutachten des Rechtsmediziners Ernst Ziemkes. Johanna Preuss-Wössner, dessen Nachfolgerin auf dem Lehrstuhl für Rechtsmedizin in Kiel, hat sie jetzt ausgegraben. Es liegt nahe, dass Fallada die Erzählungen während seines Gefängnisaufenthaltes schrieb. Alle fünf tragen deutlich autobiografische Züge. In ihnen geht der Autor seinem Charakter und seinen Neigungen – vor allem seinen sexuellen – auf den Grund. Ziemlich schonungslos porträtiert er sich in der Erzählung „Der Apparat der Liebe“ selbst.
Der kleine Bankbeamte dort, der tagsüber auf seinem Kontorbock hockte, ungestaltene Träume im Herzen, der sich schlecht nährte und kleidete, um die Bücher besitzen zu können, die er ersehnte, der bei Straßenmädchen nach jener Liebe suchte, von der seine Träume voll waren- welch klägliches, schwaches, lebensuntüchtiges Geschöpf war er doch und wie gläubig, wie zäh, wie schwer endgültig zu entmutigen!
Es geht in diesen frühen Erzählungen um die Suche nach der Liebe. Interessanterweise nimmt Fallada dabei meist eine weibliche Perspektive ein. Er lässt seine Protagonistinnen von ihren Versuchen erzählen, das Glück in der Liebe zu finden. Doch einen tieferen Einblick in deren Psyche verschafft ihm dieser erzähltechnische Trick nicht, sehr erkennbar bleiben seine traurigen Heldinnen Projektionsflächen seiner unverstandenen eigenen Sehnsüchte und Befindlichkeiten. Marie in der Erzählung „Der Apparat der Liebe“ heiratet einen ungeliebten Mann und verausgabt ihr Gefühlsleben in zahllosen Seitensprüngen, erlebt da „Lust“ und „Leidenschaft“, doch die „wahre Liebe“ erfährt sie nie.
Ach, die Küsse, die Verzückungen, die Schmeichelworte, sie waren immer die gleichen, mein Gefühl kannte sie, es erledigte sie, ohne meine Seele zu bemühen.
Thilde, die Protagonistin der Erzählung „Die große Liebe“ erlebt als Siebzehnjährige mit Fritz zwar die Liebe, doch für ihn ist es bloß eine Episode. Sie trennen sich, finden nach etlichen Jahren wieder zusammen, heiraten, haben Kinder, doch Fritz entwickelt sich zum Tyrannen, die Ehe scheitert. Alt und alleine blickt Thilde zurück: Sie liebt ihn noch immer, weiß aber, dass ihre Liebe immer einseitig, bloß eine Illusion war. – Fatalismus, das sich Ergeben in ein fremdbestimmtes Schicksal, wird später zur bestimmenden Welthaltung der großen Romane Hans Falladas. Darin übt er sich bereits in diesen frühen Erzählungen. Aber es sind nicht mehr als Übungen. Die Geschichten wirken konstruiert, blutleer, dazu da, eine These zu behaupten, erzählerisch schwach, stilistisch unbeholfen, manchmal dicht am Klischee und nah am Kitsch.
Sie saß gebeugt über ihre Seligkeit und träumte sie immer wieder neu. Immer die gleiche und stete Seligkeit. Schon zitterte ihr banges Herz davor, dass sie einmal entglitten sein könnte.
Noch hat Hans Fallada sein Thema – die Lebenswirklichkeit der „kleinen Leute“ – nicht gefunden. Noch beschäftigt er sich zu sehr mit sich selbst. Noch fehlt ihm hier der erzählerische Ton, zu dem er in seinen Romanen findet. Der Roman und nicht die Erzählung ist seine Form. Das stellte sich schon vor zwei Jahren bei der Veröffentlichung seiner bisher verstreut erschienenen übrigen, oft sehr schwachen Erzählungen heraus. Spannend zu lesen sind auch die neu gefundenen eher als biografische Dokumente. Und als Übungsstücke, in denen der Schriftsteller mit erzählerischen Techniken experimentiert: Wie er große Fallhöhen aufbaut und wie er die Leser an den Träumen seiner „kleinen Leute“ teilhaben lässt. Techniken, die Fallada nur wenige Jahre später zu einem großen Schriftsteller machen werden.
WDR 3 Mosaik 25. Mai 2021