Patricia Highsmith, Ladies. Frühe Stories. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz, Dirk van Gunstern und pociao.Diogenes 2020. 320 Seiten. 24 Euro.
https://www1.wdr.de/kultur/buecher/highsmith-ladies-fruehe-stories-100.html
Vorsichtig träufelt Geraldine Chloroform auf einen Lappen, den sie ihrem im Sessel seinen Rausch ausschlafenden Mann Clark auf den Mund gelegt hat. Aufmerksam beobachtet sie dabei seine Schläfenader. Als sie nicht mehr pocht, leert sie beherzt den Rest der Chloroformflasche. Sicherheitshalber. Den Klauenhammer, den sie ebenfalls sicherheitshalber bereitliegen hatte, räumt sie wieder in den Schuppen, packt ihren Koffer und verlässt das Haus, in dem Clark sie seit Jahren eingesperrt und verprügelt hat.
Hier im Bus fühlte sie sich sicher und stark, als wäre sie im Inneren eines Berges oder hellwach inmitten eines intensiven, nicht enden wollenden Traumes. Sie könnte doch einfach weiterfahren, bis ihr Geld zu Ende war, und dann irgendwo aussteigen und sich eine Arbeit suchen. Sie würde wieder ihren alten Namen annehmen und eine kleine möblierte Wohnung mieten und sich jeden Abend etwas kochen, vielleicht einmal die Woche ins Kino gehen…
Es sind Befreiungsträume, die viele der – nicht nur weiblichen – Protagonisten in Patricia Highsmiths Erzählungen zum Aufbruch in eine glücklichere Zukunft, in ein neues Leben treiben. Auch Aaron, ein etwas einfältiger New Yorker Taxifahrer, will hinaus aus der Stadt, deren chaotische Betriebsamkeit ihn immer nervöser werden ließ. Er sehnt sich nach Ruhe, nach einer Welt unberührt von „Gier, Bitterkeit und schmutzigem Geschäftssinn“, steigt in einen Zug und glaubt diese Welt schließlich in einem kleinen Städtchen in New Hampshire gefunden zu haben. – Doch wie Geraldines währt auch Aarons Traum vom neuen Leben nicht lange. Argwöhnisch beobachten die Stadtbewohner, wie der naive Mann sich mit einem zehnjährige Mädchen anfreundet, schneiden ihn daraufhin und jagen ihn aus ihrem Spießer-Paradies. Geraldines Mann überlebt den Chloroform-Anschlag und schickt ihr die Polizei hinterher, um sie zurückzuholen.
In nüchterner, auf jeden „Stil“ verzichtenden Sprache führt eine schon mit zwanzig Jahren nahezu perfekte Erzählerin die Leser in die Seelentiefen ihrer Heldinnen und Helden. Fast immer geht es in ihren Geschichten um den Verlust von Illusionen, um das Scheitern an der Realität, um den Schock, den die Einsicht in deren Unerbittlichkeit verursacht. Und obwohl Patricia Highsmith hier wie auch in ihren späteren Romanen und Erzählungen immer in sachlicher Distanz zu ihren „Heldinnen“ bleibt, verfolgt der Leser deren Geschichte in atemloser Spannung. Denn er kann sich so sehr in ihre Gefühlswelt hineinversetzen, dass er bis zum letzten Augenblick mit ihnen bangt, es möge ein gutes Ende nehmen, ihre Zukunftsträume doch noch wahr werden.
In drei Monaten würden sie genug Geld haben, um den nächsten Feldzug in ihrem Kampf zu eröffnen, ihre Scheidung. Nur noch drei Monate. Vierundzwanzig nachmittägliche Begegnungen wie diese, dachte er zum ersten Mal, und er wusste, dass er sie von nun an unwillkürlich zählen würde. Vierundzwanzig…
Es bleibt offen, ob sich die Hoffnungen dieses jungen Mannes erfüllen werden, der seine Geliebte, die verheiratete Mutter eines kleinen Jungen, jeden Nachmittag in einem stillen Park trifft. Aber durch einen erzählerischen Kniff dieser komplexesten Erzählung „Die stille Mitte der Welt“, deutet die Autorin an, dass es wohl nicht so sein wird: Der kleine Junge der Frau freundet sich während der Treffen im Park mit einem anderen Jungen an. Dessen bigotte Mutter beobachtet die heimlichen Treffen des Paares und nachdem sie begriffen hat, was da vor sich geht, untersagt sie ihrem Jungen das Spielen mit dem anderen. Für den bricht eine Welt zusammen.
Bei diesen frühen Geschichten kann man eine geniale Perfektionistin beim Üben beobachten. Es sind Studien für die spezifische Art von Kriminalromanen, die Patricia Highsmith von den 1950er Jahren an weltberühmt machten. In ihnen wird es nie um die Lösung eines „Falls“ gehen, sonder diesen „Fall“ entwickelt sie aus der Psyche ihrer Protagonisten heraus. Gebannt verfolgt der Leser, wie sich so mit nahezu zwingender innerer Notwendigkeit eine zwar die gesellschaftlichen Normen verletzende Tat entwickelt. Für die Protagonisten bedeutet sie aber fast immer eine Befreiung. Und: Diese Befreiung muss nicht unbedingt ein krimineller Akt sein. In der anrührendsten Geschichte dieses Bandes, „Blumen für Louisa“, gelingt es einer Sekretärin, sich aus dem aus Verbitterung selbst angelegten Korsett eiserner Disziplin zu befreien, als sie sich dazu entscheidet, sich um ein krankes Nachbarkind zu kümmern.
Als Louisa den Hörer auflegte, kam sie sich vor wie ein entgleister Zug. Zum ersten Mal seit fünf oder sechs Jahren würde sie nicht um neun Uhr im Büro sein. Sie hatte beschlossen, auf den Arzt zu warten und ihn zu fragen, wie es wirklich um Jeannie stand.
Louisa bleibt nicht nur an diesem Morgen, sondern Tage lang dem Büro fern und kümmert sich aufopferungsvoll um das kranke Kind. Am Ende wird sie dafür von ihrem bis dahin sehr distanzierten Chef durch einen großen Strauß weißer Rosen belohnt. Das mag ein kitschiger und gewiss kein emanzipatorischer Schluss sein. Doch offenbart er eine bisher unbekannte, unerwartete Seite einer Autorin, die später als große Pessimistin in die Literaturgeschichte einging. Und er wirft die Frage auf, wie viel Menschenfreundlichkeit sich eigentlich hinter ihrem Pessimismus verbirgt.
WDR 3 Mosaik 8. Februar 2021