Eine heute bei der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienene Studie von 22 ExpertInnen aus den Erziehungswissenschaften, von Schulverwaltungen, Schüler- und Eltern-VertreterInnen zeigt Wege auf, wie aus der Pandemie Lehren zu ziehen sind.
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-resonanzen/audio-lehren-aus-der-pandemie–100.html
So jemand wie der amerikanische Schriftsteller Mark Twain konnte im 19. Jahrhundert noch damit prahlen, dass er seine Erziehung nie durch Schulbildung habe beeinträchtigen lassen. Entsprechend kamen seine Helden Tom Sawyer und Huckleberry Finn auch ohne Schulbesuch ziemlich weit herum. Allerdings auch ziemlich weit außerhalb der Normen der sogenannten gutbürgerlichen Gesellschaft. Die gut zwei Millionen Schüler, die hierzulande als arm gelten, leben zwar nicht außerhalb der Normen der gutbürgerlichen Gesellschaft. Jedoch fern von den Bildungsprivilegien, die diese den weniger armen gewährt und unerreichbar fern von den Privilegien der Reichen.
Dass sich diese Situation in Zeiten der Pandemie zuspitzt, scheint der Aufmerksamkeit der Schulbürokratien der Länder, auch denen in NRW, entgangen zu sein. Obwohl man auch dort wissen müsste, dass bei Schülern aus „sozial schwachen“ Schichten während des sogenannten Homeschoolings oft rund um die Uhr der Fernseher läuft, es keinen Platz zum ungestörten Lernen gibt und die Eltern nicht in der Lage oder auch willens sind, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen: Gerade diese Schüler, die dringender als alle anderen auf den Schulbesuch, also auf Präsenzunterricht angewiesen sind, wurden sehr stiefmütterlich behandelt.
Vor den Sommerferien entworfene Konzepte, etwa durch versetzte Schulstunden einen Präsenzunterricht zu gewährleisten, warf man beim zweiten Lockdown über den Haufen, stellte die Lehrkräfte „ad hoc“ vor die „Herausforderung“ des weitgehend digitalisierten Unterrichts. Die konnten sie vor allem in Brennpunktstadtteilen mit überwiegend armer oder migrantischer Bevölkerung nicht bewältigen. Mitarbeiter von Jugendhilfswerken sprechen von vielen Kindern, die nur noch vorm Computer hocken und zocken, von falscher Ernährung, weil das Schulessen wegfällt, von Kindern, die schon im ersten Lockdown zehn, zwanzig Kilo zugenommen haben.
Vorschläge, wie mit der aktuellen Situation der armen Schüler umzugehen und Anregungen, wie die auch in Zukunft zu verbessern sei, kommen von außerhalb, von einer Expertenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung. Das ist kein Ruhmesblatt unserer Schulbürokratien. Warum müssen sich die Verantwortlichen erst darüber belehren lassen, dass arme Kinder ganz besonders feste Alltags- und Lernstrukturen, kleinere Arbeitsgruppen, die kontinuierliche Betreuung durch Pädagogen brauchen? Dass die Schulen dazu da sind, dem Gerechtigkeitsproblem der Gesellschaft dadurch zu begegnen, das Prinzip umzudrehen und die Nichtprivilegierten privilegiert zu behandeln?
Der französische Soziologe Pierre Bordieu beschrieb das Schulsystem als eine „Höllenmaschine“, zu dem Zwecke programmiert, Kinder aus armen Schichten abzuwerten und so dafür zu sorgen, dass eine bestimmte Form der Klassenherrschaft erhalten bleibt. – Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt Wege und Möglichkeiten auf, wie die Pandemie dazu genutzt werden könnte, die Schulen endlich umzuprogrammieren.
WDR 3 Resonanzen 21. Januar 2021