Georges Simenon, Aus den Akten der Agence O. Sechs Fälle. Aus dem Französischen von Sabine Schmidt und Susanne Röckel. Kampa Verlag Zürich. 2020. 330 Seiten. 19,90 Euro
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Émile, das rothaarige Superhirn der berühmten Privatdetektei „Agence O“, sitzt in einem Straßencafé am Boulevard Montmartre, da vernimmt er Morsezeichen, die immer wieder einen Straßennamen und eine Hausnummer signalisieren. Er schaut sich um und entdeckt, dass der Sender der Morsezeichen ein hübscher Krokoschuh mit hohem und spitzem Absatz an einem der Nachbartische ist. Schuh und Fuß darin gehören zu einer eleganten Dame, deren Miene nichts zu erkennen gibt. Wem gilt die Botschaft? Im Café sitzt nur ein zufriedener alter Rentner, der mit einem Drehbleistift Kreuzworträtsel löst.
Wer war wichtiger? Die Person, die die Nachricht schickte, oder diejenige, die sie empfing? Der Absender der Nachricht spielte vielleicht nur eine Nebenrolle, sie war vielleicht nur ein Zwischenglied. Die – oder derjenige, der sie empfing dagegen…
Mit diesem witzigen Vorgriff auf die Semiotik der 1970er Jahre beginnt Georges Simenons im Jahr 1941 geschriebene Geschichte „Der alte Mann mit dem Drehbleistift“. – Ähnlich vertrackt konstruiert sind die übrigen fünf der hier versammelten Fälle der „Agence O“. Mal muss Émile eine ganze Nacht mit einer Diamantendiebin durch sämtliche Pariser Bistros und Bars ziehen, bis er dahinter kommt, wo sie ihre Beute versteckt hat. Mal greift Torrence, der Chef der Agentur, der übrigens lange Zeit Assistent des berühmten Kommissar Maigret war, gar zu illegalen Mitteln, um die Fingerabdrücke eines Täters auf eine Tatwaffe zu platzieren. – Alle sechs in diesem Buch versammelten Geschichten sind so verwirrend angelegte Kriminalfälle, dass der Leser sie mehrfach lesen muss, – was dann wohl fast so lange dauert, wie der Autor brauchte, um sie zu schreiben. – Bloß ein paar Stunden am Vormittag veranschlagte Simenon pro Geschichte. Danach eilte er an den Strand von La Rochelle, um den Nachmittag mit der Familie zu verbringen. Der Maler Maurice de Vlaminck besuchte ihn im Jahr 1940 dort. Vlaminck notiert:
Schöne Autos, schöne Stoffe, teure Dinge. Wenn er reist, steigt er in prächtigen Palästen ab und isst in den berühmtesten Restaurants. Doch wenn er schreibt, verlegt er seine Geschichten in schäbige Hotels, in denen es von Flöhen wimmelt, in anrüchige Kneipen und schmutzigen Nachlokale. Seine Helden sind die Armen und Hungernden, Menschen, die das Elend erniedrigt hat und die zu Mördern und Selbstmördern werden.
Anrüchige Kneipen und schmutzige Nachtlokale gibt es in den Geschichten aus der „Agence O“ natürlich auch. Aber alles andere, was den Romancier Georges Simenon sonst ausmacht, fehlt diesen Geschichten. Die unübertroffene Stärke Simenons besteht in seiner Fähigkeit, mit wenigen Worten soziale Milieus und Atmosphären zu schildern und daraus präzise die Psychologie seiner Figuren zu entfalten. Die Geschichten der „Agence O“ dagegen sind auf ein rein kriminalistisches Skelett reduziert. Die Figuren darin leben als bloße Funktionen der Handlung, ihre Charaktere sind durch paar äußerlichen Kennzeichen gerade einmal skizziert.
Und dennoch lesen sich diese Simenon-„light“-Geschichten immer noch recht gut. Sie sind flott und manchmal mit viel Ironie geschrieben und – sie haben Witz. Der besteht vor allem darin, dass Simenon sie augenzwinkernd als Zweit- oder wenn man so will, als Resteverwertung seiner Maigrets zu erkennen gibt. – So kann es also keine Zweifel an der Legitimität der verlegerischen Entscheidung geben, auch die eher trivialen Erzeugnisse des großen Simenon zu veröffentlichen. Sie sind ebenso Teil seines gesamten Werkes wie seine verlogenen „Intimen Memoiren“. Allerdings hätte man vom Nachwort des Neu-Verlegers Daniel Kampa erwarten dürfen, näher auf den historischen Entstehungszusammenhang dieser und anderer während er Okkupationszeit veröffentlichten Texte Simenons einzugehen. Die vorliegenden „Agence-O“-Geschichten erschienen in der Zeitschrift „Policeroman“. Doch andere Manuskripte lieferte er gedankenlos an die übelsten faschistischen Zeitschriften wie „Je suis partout“. Der das französische Filmgeschäft dominierenden deutschen Produktionsgesellschaft Continental verkaufte er neun seiner Bücher, fünf davon verfilmte sie in Frankreich, so viele wie von keinem anderen französischen Autor. Auf den Vorwurf, während der Besatzung zu viel Geld zu verdienen, reagierte Simenon im September 1942 in der Zeitschrift Vedettemit einer wütenden antisemtischen Polemik gegen die „Willfährigkeit“ der Presse, die zu hohe Gagen im Filmgewerbe anprangerte:
Veröffentlichen dieselben Zeitungen die Gehälter ihrer Besitzer? Rechnen sie den Preis der Telefongespräche in Francs und Dollars aus, die dieser oder jener Rothschild oder dieser oder jener Finanzhai führen, wenn sie an der Börse gegen den Franc spekulieren?
Ein guter Schriftsteller braucht kein guter Mensch zu sein. Nach allem, was wir wissen, war Georges Simenon kein besonders guter Mensch, auch wenn er in seinen Autobiografien das Gegenteil behauptete. Aber er war ein guter Schriftsteller. Niemand verlangt, dass sich ein guter Autor moralisch und schriftstellerisch immer auf der Höhe seiner besten Werke bewegen muss. Die Geschichten der „Agence O“ zeigen allerdings, dass Georges Simenon allzu gerne bereit war, sein großes Talent leichtfertig zu verscherbeln.
WDR3 Mosaik 12. Januar 2021