Das Jahresende ist die Zeit des Bilanzierens: Was war gut, was war schlecht, was hätte man eher besser machen, was eher lassen sollen und so weiter. Für Leute, die von Berufs wegen vor allem mit dem Lesen zu tun haben, liegt natürlich eine Jahresabschluss-Lesebilanz nahe.
Dieses jetzt zu Ende gehende Lockdown-Jahr verschaffte mir die herrliche Möglichkeit, auch das zu lesen, was ich nicht ohnehin lesen muss. Also einfach nach Lust und Laune zu lesen, kreuz und quer, aber vor allem das, was seit langem ungelesen im Bücherregal stehen geblieben ist oder dessen Lektüre schon so lange zurückliegt, dass ich mich nur noch vage daran erinnerte.
Damit fing ich während des ersten Lockdowns im Frühjahr an, freute mich auf die Wiederentdeckung der Lieblingslektüre aus der Studentenzeit. Und wurde ziemlich enttäuscht. Beim einst verehrten Philosophen Theodor W. Adorno stieß mich bei aller Klugheit der „Minima Moralia“ der manierierte, auf den Effekt des nachgestellten Reflexivpronomens zielende Stil ab. Etwa, wenn er schreibt, dass die Analytiker „der eigenen Spekulation sich anvertrauen.“
Und in den Essays seines Philosophen-Kollegen Max Horkheimer aus den 30er Jahren stieß mir die leninistische Verklärung der Kritischen Theorie als der alleinseligmachenden Wahrheit unangenehm auf. – Reisen in die eigene Lese-Vergangenheit können einem vor Augen führen, wie blind man einst den Moden folgte – und auch, wie wenig man manchmal eigentlich verstanden hat. Oder: Was oder wen man früher besser gelesen hätte. Etwa den von den beiden „Frankfurtern“ schnöde ausgeschlossenen Alfred Sohn-Rethel. Und dessen „Das Ideal des Kaputten“ aus den 20er Jahren, einen wunderbar ironischen Aufsatz über das Technikverständnis der Neapolitaner.
Als gebranntes Kind also machte ich mich auf die vom zweiten Lockdown ermöglichte Lesereise und schlug den Weg weg von der Theorie hin zur Literatur ein. Und wurde belohnt. Georges Perecs Roman „Das Leben. Gebrauchsanweisung“ wurde für mich zur Entdeckung des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts. Dabei hatte er mich seit ewiger Zeit vorwurfsvoll, weil ungelesen, aus dem Regal angeschaut. Auf fast 800 Seiten und über einen Erzählzeitraum von 1920 bis 1978 erzählt Perec die Leben von hunderten Bewohnern eines Pariser Mietshauses. So eindrucksvoll entfaltet sich hier die menschliche Komödie des 20. Jahrhunderts, dass ich nie aufhören möchte, darin zu lesen, immer wieder von vorne anfange und deshalb hoffentlich noch lange nicht am Ende bin.
Womit ich einem Rat des ebenfalls französischen Schriftstellers Daniel Pennac folge. Dessen bezaubernd absurde Krimis um den in einem Kaufhaus als „Sündenbock“ arbeitenden Benjamin Malaussène lese ich jetzt zum zweiten Mal. Pennac war lange Zeit Volksschullehrer. Anfang der 90er Jahre schrieb er mit dem Buch „Wie ein Roman“ so etwas wie eine Gebrauchsanweisung zum Lesen. Darin führt er in zehn Geboten die Rechte des Lesers auf. Er beginnt mit dem Recht, nicht zu lesen und endet mit dem Recht zu schweigen. Für uns Lesende in Lockdown-Zeiten am meisten Bedeutung haben jedoch andere Rechte: Nämlich das Recht, ein Buch noch mal zu lesen, es nicht zu Ende zu Lesen, Seiten zu überspringen und ganz besonders das Recht, einen Roman als das Leben zu sehen. Sich also mit Georges Perec bis zum Ende aller Lockdowns von der Wirklichkeit verabschieden zu dürfen.
WDR 3 Mosaik, 31. Dezember 2020