Occupy Widerstand

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Eines der schönsten geflügelten Worte im gerade wiedervereinigten Deutschland stammt vom konservativen Publizisten Johannes Gross: „Je länger das Dritte Reich tot ist, um so stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“ Das bezog sich auf die vor allem ostdeutsche „Antifa“-Bewegung. Die warnte zur Zeit der Wende vor einem drohenden „Vierten Reich“ und denunzierte den westdeutschen Staat als „faschistisch“. Gross erkannte darin eine groteske Verharmlosung der tatsächlichen Nationalsozialistischen Diktatur. Und eine völlig unberechtigte Überhöhung und gleichzeitige Vereinnahmung des Widerstandes dagegen.

Ganz Ähnliches liegt vor, wenn bei einer „Querdenker“-Kundgebung eine Jana aus Kassel sagt, sie fühle sich wie Sophie Scholl, da sie seit Monaten „aktiv im Widerstand“ sei. Oder auch, wenn sich der ebenfalls der „Querdenker“-Szene zurechnende Pianist Stefan Mikisch mit dem Widerstandskämpfer Hans Scholl vergleicht. Empörung rufen solche Äußerungen wegen der Anmaßung hervor, ein bisschen krawalligen, aber strafrechtlich meist folgenlosen Protest gegen einen Rechtsstaat mit dem Heldenmut von Menschen zu vergleichen, die unter der Guillotine einer Diktatur starben.

Trotzdem lohnt es sich, auf die Formulierung der Jana aus Kassel einzugehen. Wenn sie sagte, sie „fühle sich wie“ Sophie Scholl, kann ihr das zunächst einmal niemand abstreiten. Jede darf sich fühlen wie und als was sie will. Wer fühlt, reklamiert für sich die Echtheit seines Gefühls. Und sind echte Gefühle nicht immer auch wahr? Der in dem „ich fühle mich wie Sophie Scholl“ steckende Wahrheitsanspruch ist perfide: Denn dadurch, dass sie sich mit ihrem Gefühl unangreifbar macht, stellt Jana gleichzeitig auch außer Frage, dass es sich bei der Bundesrepublik um einen totalitären Staat handelt. Dass sie also im „Coronafaschismus“ lebt, wie es der sich als Hans Scholl fühlende Pianist Stefan Mikisch ausdrückt.

Fühlen ist aber auch das Gegenteil von Wissen. Nimmt man das Gefühl der Jana aus Kassel wirklich ernst, glaubt ihr, dass sie sich wie Sophie Scholl fühlt, muss man ihr auch attestieren, dass sie nicht weiß, wer Sophie Scholl war. Und vor allem nicht weiß, in welcher historischen Situation, in welcher Art von Staat sie lebte. Dass die rechte Szene nun den Widerstand gegen die Nazidiktatur okkupiert und die Bundesrepublik mit dem Hitlerfaschismus vergleicht, ist natürlich eine gewollte denunziatorische Bösartigkeit. Sie kann aber nur deshalb greifen, weil das „Dritte Reich“ schon so lange tot ist, dass inzwischen viel zu wenige zu wissen scheinen, was es wirklich war. Und deshalb auch nicht ermessen können, dass sie tatsächlich in einer Demokratie leben. 

Deutschlandfunk Kultur heute 25. Dezember 2020