Robert Harris, Vergeltung. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne Verlag. 367 Seiten. 22 Euro.
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Die vierundzwanzigjährige Kay Caton-Walsh ist in London gerade aus dem Bett ihres verheirateten Vorgesetzten gestiegen, da spürt sie ein Vibrieren in der Luft. Einen Augenblick später schlägt eine V2 ein, das Stockwerk bricht zusammen, ihr Geliebter wird verletzt ins Krankenhaus gebracht. – Dieses Erlebnis wird für sie zum Moment der Entscheidung: Sie will weg aus London, weg von der aussichtslosen Beziehung, weg von ihrem langweiligen Posten als Offizierin bei der Luftbildauswertung, näher heran an die Abschussrampen der V2. Die stehen im November 1944 in den Dünen beim niederländischen Badeort Scheveningen. – Dort ist der deutsche Ingenieur Rudi Graf verantwortlich für die reibungslosen Starts der deutschen „Wunderwaffe“. Vor wenigen Minuten hat er die Rakete gestartet, die Kays Liebhaber fast umgebracht hätte. Die nächste V2 aber versagt, explodiert beim Start und reißt viele deutsche Soldaten in den Tod. Mit einem vorgesetzten Offizier inspiziert Graf den Krater und die Toten.
Seidel schüttelte den Kopf. „Der Apparat, Graf, den ihr da zusammengebaut habt, der richtet verdammt viel Schaden an.“ „Ich weiß. Ich wünschte nur, wir hätten die Zeit, ihn zuverlässig zu machen.“
So ganz passt dieser Rudi Graf nicht in das Schema des skrupellosen „Technikers des Todes“. Natürlich geht es ihm, der in Peenemünde zusammen mit Wernher von Braun die V2 entwickelte, in erster Linie um das einwandfreie Funktionieren der Rakete. Fatalistisch nimmt er hin, dass die SS die Herrschaft über die Produktion der V2 übernimmt, dass sein Freund von Braun sich opportunistisch der SS anschließt und dass ihre gemeinsame Erfindung schließlich als todbringende Waffe verwendet wird. Doch in jenem November 1944 kommt er ins Nachdenken. – Dazu trägt, wenn auch nur indirekt, Kay Caton-Walsh bei. Sie gehört inzwischen zu einer britischen Einheit im gerade 70 Kilometer von Scheveningen entfernten belgischen Mecheln: Anhand von Radar-Daten soll sie die ballistische Kurve der soeben abgefeuerten V2 berechnen. Zu welchem Zweck, trichtert ihr ihre Vorgesetze immer wieder ein:
Unser Ziel ist es, die Berechnungen binnen sechs Minuten nach Erhalt aller Daten abzuschließen. Das ist die optimale Zeit, unsere Kampffugzeuge in die Lage zu versetzen, die Zielpunkte zu erreichen, bevor der Feind seine Anlage vollständig demontieren kann. Jede Sekunde ist kostbar.
Und so kommt es zu einer Art Fernduell zwischen Kay Caton-Walsh und Rudi Graf: Sie liefert der Royal Airforce die Koordinaten und deren Spitfire-Piloten bombardieren darauf die Stellungen von Grafs V2. – Es dauert eine Weile, bis die SS-Offiziere, die in Scheveningen das Kommando haben, dahinter kommen, woher die Bedrohung stammt. Graf erhält den Befehl, die nächsten V2 nicht nach London, sondern nach Mecheln zu schicken.
Es beunruhigte ihn, wie gleichgültig ihm alles war. Es kümmerte ihn nicht einmal sonderlich, dass er die Zieleinstellungen einer ballistischen Rakete so geändert hatte, dass sie eine belgische Stadt treffen würde. Briten oder Belgier – welche Rolle spielte das? Wie viele Zivilisten hatte er schon umgebracht? Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Mein Gott, dachte er. Was bin ich?
Die erste Rakete fliegt Richtung Mecheln, schlägt jedoch – unpräzise wie die meisten V2 – in einem Acker außerhalb der Stadt ein. Die nächste aber verglüht im Weltraum, ihre Reste stürzen irgendwo ins Meer. Graf hat sie manipuliert. – Es hat lange gedauert, bis er die Fronten wechselt, zum Gegner der SS-Herrschaft über die V2 und zum Saboteur der Todesflüge wird. Dieser Wandel ist als der dramatische Wendepunkt des Romans gedacht. Doch der funktioniert nicht so recht. Dem Thriller fehlt der Thrill. Zwar erlebt der Leser die innere Entwicklung und die wachsenden Zweifel Grafs. Aber die entstehen nicht in der Konsequenz einer spannenden Handlung, wie es das ungeschriebene Gesetz des Genres verlangt. Denn echte Spannung kann hier nicht aufkommen, weil es keine unmittelbare Konfrontation der beiden Protagonisten gibt. Zu weit voneinander entfernt sind Graf und Kay. Und deshalb bleibt ihr Fernduell nur abstrakt nachvollziehbar, entfaltet sich nie auf einer sinnlichen Handlungsebene.
Robert Harris muss dieses dramaturgische Manko beim Schreiben klar geworden sein. Er füllt den dadurch entstehenden erzählerischen Leerlauf mit detailgenauen Beschreibungen der V2-Technik einer- , der britischen Logistik der Luftaufklärung andererseits. Aber auch mit allerlei Belanglosem. Am Ende lässt er, vom Leser schon lange erwartet, Kay und Graf in einer einzigen winzigen Szene nach dem Krieg dann doch zusammentreffen und deutet eine nachfolgende Liebesgeschichte an. Doch ist diese Mini-Pointe eigentlich das Eingeständnis einer diesmal leider schief gegangenen Romankonstruktion.
WDR 3 Mosaik 21. Dezember 2020