Günther Anders, Schriften zu Kunst und Film. Herausgegeben von Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz. Beck 2020. 487 Seiten. 44 Euro
https://www1.wdr.de/kultur/buecher/anders-schriften-zu-kunst-und-film-100.html
Der Blick auf den Philosophen Günther Anders war lange verengt auf den „Atomphilosophen“ Anders und dessen aus seiner Theorie der „Apokalypseblindheit“ folgenden politischen Engagements. Verloren ging dabei die Wahrnehmung seiner beeindruckenden Vielseitigkeit als Theoretiker und Schriftsteller. Je mehr der Nachlass des 1992 Verstorbenen erschlossen wird, als desto breiter erweist sich das Feld der Bereiche, in denen er nachdachte, und zwar sehr gründlich nachdachte. Eine Überraschung bereitete schon vor drei Jahren die Veröffentlichung seiner musikphilosophischen Untersuchung. Sie zeigt ihn auf gleicher Höhe mit der Musiktheorie Theodor W. Adornos. Der freilich wusste, will man Anders’ erster Ehefrau Hannah Arendt glauben, deren Annahme als Habilitationsschrift zu verhindern. – Eine weitere Überraschung bereiten Günther Anders’ jetzt erstmals bzw. neu veröffentlichten Schriften zu „Kunst und Film“. Auf einer Paris-Reise Ende der 1920er Jahre machte er sich Gedanken über und Notizen zu einer umfassenden Kunsttheorie. Die auszuführen verhinderte die kurz darauf erzwungene Emigration. Welche Früchte sie hätte tragen können, zeigen seine zahlreichen „Künstlerporträts für den Rundfunk“ aus den frühen 50er Jahren. Etwa das über Pieter Bruegel den Älteren als einen „Maler der Kälte“:
Wer, während ich jetzt spreche, in einem Bildband Bruegels blättert, dem wird auffallen, wie viele Figuren in Rückenansicht dargestellt sind. Das ist höchst merkwürdig. Denn es bedeutet, dass der Mensch nun nicht als ein Wesen dargestellt ist, das Menschenantlitz trägt oder als ein Wesen, das uns entgegen kommt, sondern als eines, dessen Treiben wir zusehen wie dem eines fremden, anonymen Getiers. Da er also den Menschen als ein kindisches, blindes und vernunftloses Wesen präsentiert, darf man wohl sagen, er gebe vom Menschen ein verfremdetes Bild.
Diese Sensibilität Günther Anders’ für Verfremdung, Entfremdung und Verdinglichung in der Malerei von Bruegel bis zu Manet und van Gogh verdankt sich seiner philosophischen Herkunft aus dem Existentialismus Heideggerscher Prägung. Danach kommt der Mensch immer erst nachträglich auf die Welt. An dieser Idee von der Weltfremdheit und Heimatlosigkeit des Menschen hält auch seine spätere, sich an der Kritik der technologischen Moderne entfaltende Anthropologie fest. Sie schärft ihm auch den Blick auf die sich in der Kunst zeigende historische Zurichtung des Menschen. In einer überaus scharfsichtigen Analyse richtet er ihn etwa auf die „entsetzliche Lügentechnik“ des Jugendstils. Der nämlich stellt für Anders den Versuch dar, die Realität der Industrialisierung und Technik zu verleugnen, dadurch…
…dass man sich mit Produkten umgab, die vorgaben, nicht gemacht zu sein, sondern dschungelhaft aus dem Urschleim der Welt aufgebrodelt zu sein. Alle Gegenstände des Jugendstils lügen über ihren Ursprung, sie geben grundsätzlich eine falsche Genese vor; ihre Faktur verleugnet ihr Gemachtsein.
Neben den vielen verstreut erschienenen beziehungsweise als Radiobeiträge gesendeten Aufsätzen versammelt der Band eine ganze Reihe bisher unveröffentlichter Tagebucheinträge, Skizzen und Memoranden. Darin tut sich eine Welt breit gestreuter Interessen und hoch ambitionierten, gründlichen Nachdenkens auf.
Eines Nachdenkens von Fall zu Fall zwar, aber eines, das sich jedes Mal selbst grundsätzlich in Frage stellt. So etwa im Italien-Tagebuch von 1954, als man den Autor überraschend zu einer Italienreise eingeladen hatte.
Soll, was ich vor vierzig Jahren in Breslau als zwölfjähriger Schüler erträumt hatte, heute für den mehr als Fünfzigjährigen doch noch wahr werden? Geht das? Kann man so tun, als wäre man sein eigener Vater? Und so, als hieße das Jahr nicht 1954, sondern 1904? Und so, als wären Museumsreisen noch möglich? Und als hätte es keinen Hitler gegeben? Und kein Auschwitz? Und kein Hiroshima? Und als wären Auschwitz und Hiroshima nur gewesen? Und als verbluteten nicht auch heute, gleich ob noch oder schon wieder, Tausende?
Den größten Teil des Sammelbandes nehmen die Schriften zur Bildenden Kunst ein. Die Aufsätze zum Film und Rundfunk stammen aus Günther Anders’ Zeit als Feuilletonist zu Anfang der 30er Jahre. Eine geschlossene Medientheorie, wie er sie dann 1956 in seinem Hauptwerke „Die Antiquiertheit des Menschen“ vorlegte, kommt hier noch nicht zum Vorschein. Dafür aber finden sich viele und manchmal auch sehr witzige Beispiele für seine schriftstellerischen Ambitionen. Etwa seine in der Emigration in Hollywood auf Englisch geschriebenen Entwürfe für Hörspiele oder Szenen für Comicfilme wie „Pete the Lion Hunter“, dessen Pointe auf dem Vertauschen von Zwei- und Dreidimensionalität beruht. – Am interessantesten darunter ist seine Idee für einen „neuen Typus Film“. Darin schlägt er eine Art Science Fiction vor: Ausgehend von einer Dokumentation konkreter historischer Ereignisse malt der Film aus, wie die Geschichte weiter verlaufen wäre, hätte es sie nicht gegeben. Was wäre beispielsweise passiert, wenn es das Münchner Abkommen von 1938 nicht gegeben hätte, Hitlers Aggressionen von vornherein gestoppt worden wären? – Hier zeigt sich Günther Anders ausnahmsweise als optimistischer Utopist und damit von einer an ihm wenig bekannten, aber um so freundlicheren Seite.
WDR 3 Mosaik 13. November 2020