Der Karnevalsstart fällt aus
https://www.deutschlandfunk.de/kultur-heute.690.de.html?drbm:date=2020-11-11
Es schien sich in diesen Tagen gut zu treffen, dass der Oberkarnevalist in Köln im bürgerlichen Beruf als Bestatter unterwegs ist. In dieser Profession ist man um Trost spendende Worte nie verlegen. Womit aber tröstet er die Gemeinde der Kölschen Jecken über den Verlust ihres Allerheiligsten? Der Karneval müsse zu „seinen Ursprüngen“ zurückfinden und sich „an der Basis“ im Kleinen und Kreativen „bewähren“. Also zu Hause. Geplant ist beispielsweise das „Event“ „Sing ze Hus“: Alle öffnen um 11 Uhr 11 die Fenster und schmettern Karnevalslieder ins Freie.
Ein größeres Missverstehen dessen, was Karneval seinem Wesen nach ist, brachte noch kein anderer Karnevalist über die Lippen. Man kann – also zumindest der Rheinländer – kann Karneval nicht zu Hause feiern. Das Lächerlichste, was ein Karnevalsverein tun kann, ist – wie in Düsseldorf – seinen Mitgliedern „Sessions-Starter-Sets“ aus Luftschlangen und ein paar Dosen Bier nach Hause zu schicken. Karneval ist ein gesellschaftliches Ereignis. Karneval geht nur gesellig, in der Masse. Auf der Straße. In der Kneipe. Beim Umzug. Karneval geht nur in innigster Umarmung mit der ganzen übrigen Welt. Zu Karneval verbrüdert, vereint und vermischt sich zumindest die Kölner Stadtgesellschaft mit solcher Inbrunst, als zöge sie daraus wie aus einem Jungbrunnen die Lebenskraft für den Rest des Jahres.
Zur Recht spricht deshalb der Kabarettist Jürgen Becker davon, dass der Verzicht auf den Karneval den Psycho-Haushalt der Köln schwer durcheinander bringe. Der Karneval schlummere im Kölner das ganze Jahr wie ein Grizzlybär in der Winterruhe, um dann am 11. im 11. zu explodieren. Die Schäden, die der rheinischen Seele durch das Ausbleiben dieser Entladung zugefügt werden, sind nicht abzusehen.
Andererseits muss aber auch einmal nach den Schäden gefragt werden, die der Karneval selbst verursacht. Gilt nicht als erster deutscher Corona-Hotspot eine Karnevalsfeier im niederrheinischen Heinsberg, die dann wie ein „Brandbeschleuniger“ das Virus über ganz Deutschland verbreitete?
In der Tat liegt der Verdacht nahe, der rheinische Karneval mit seinem die Menschen aufs Innigste zueinander führenden Dreiklang von Schunkele, Singe und Bütze – Schunkeln, Singen, Küssen – sei erfunden worden, um das Corona-Virus zu verbreiten. Oder hat umgekehrt etwa ein misanthroper Gott das Virus erfunden, um es zuerst über den Karneval zu verbreiten und, nachdem ihm das gelungen ist, ihn damit dann am Ende zu killen? – Wie auch immer: Der tief verwundeten rheinischen Psyche steht eine lange Fastenzeit bevor. Aber der Rheinländer wäre nicht der Rheinländer, schlüge er nicht auch aus der tiefsten Depression einen Hoffnungsfunken. „Jeck em Sunnesching“ war bisher ein Trick der Kölner Gastronomen, auch im Sommer mit Karnevalsfeiern Umsatz zu machen. Den Karneval ganz in den Sommer zu verschieben, das könnte sich jetzt als rettende Idee erweisen.
Deutschlandradio, Kultur heute 11. November 2020