Zum US-Präsidentschaftswahlkampf
Spät am Abend, bei bitterer Kälte, hatten wir uns vorm Amerikahaus versammelt, ein paar hundert Studentinnen und Studenten höchstens, und aus voller Kehle „USA, SA, SS“ skandiert. Oder „L.B.J, how many kids did you kill today?“ Obwohl damals nicht mehr Lyndon B. Johnson sondern Richard Nixon amerikanischer Präsident und für den Vietnamkrieg verantwortlich war. Aber der Slogan klang rhythmisch einfach zu gut. Vor allem verschaffte er uns das Gefühl moralischer Überlegenheit über die „US-Imperialisten“, die Vietnam mit Napalm einäscherten.
Am nächsten Morgen saßen wir, wie jeden Morgen, in der Bibliothek des Instituts für Angloamerikanische Geschichte und bereiteten uns auf das Seminar über Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung von 1776 vor. Darüber und über die ihr folgende Verfassung der Vereinigten Staaten gab es dann im Seminar selbst zwar eifrige Diskussionen. Nie aber stellten wir in Frage, dass es sich bei dieser Verfassung um die seinerzeit leuchtendste Errungenschaft der Aufklärung und bei diesem Land, den USA, um die erste und bedeutendste westliche Demokratie handelte.
Auch wenn wir den „US-Imperialismus“ verachteten, auch wenn wir auf Seiten der Black Panther standen und zu Vorträgen der schwarzen Bürgerrechtlerin Angela Davis liefen, uns also vollkommen klar darüber waren, wie rassistisch dieses Land war: So etwas wie „Antiamerikanismus“ kannten wir nicht. Vielleicht deshalb nicht, weil wir uns als Historiker gründlich mit dem Land und seiner Geschichte beschäftigt hatten und neben seinen Schwächen auch seine ungeheuren Stärken und seine Liebenswürdigkeit kennenlernten. Vor allem aber nicht, weil wir diejenigen verehrten, die für uns seine Seele verkörperten: Von den Schriftstellern und Dichtern Herman Melville bis Walt Whitman, vom Sänger Woody Guthrie bis zur schwarzen Literaturnobelpreisträgerin Tony Morrison.
An der großen Liebe für dieses Amerika des Aufbruchs und der Freiheit kann es natürlich auch heute noch kein Rütteln geben. Und dennoch: Der fortschreitende Verlust an Rechtsstaatlichkeit nach dem 11. September 2001, der ungehemmt weiter grassierende Rassismus und der unter den Bush-Administrationen immer abstoßendere Züge annehmende religiöse Fundamentalismus haben die USA nicht sympathischer werden lassen. Nicht nur für meine Generation der Amerika-Verehrer, auch für die meisten Bundesbürger sind die USA immer weniger zu verstehen, deren Widersprüche immer weniger auszuhalten.
Im Amerika-Studium damals war ein schmales Bändchen Golo Manns Standardlektüre. „Vom Geist Amerikas“. Er hatte es 1954 geschrieben, kurz, nachdem er aus seiner Emigration in den USA zurückkehrte. Darin heißt es: „Reichere Reserven menschlichen guten Willens als in Amerika gibt es auf Erden nicht. Sie alle verloren zu geben, weil auch von dort uns schrille, gemeine Stimmen ertönen, hieße die Welt gründlich missverstehen.“
WDR 3 Mosaik 4. November 2020