Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof wird durch seinen eigenen Präsidenten düpiert
„Meine Damen und Herren, ich bin fest davon überzeugt, dass wir nur gemeinsam als Menschen, die einander und unsere Menschlichkeit respektieren, das Versprechen unseres gemeinsamen Schicksals erfüllen können, indem wir harmonisch zusammenleben, wie es in den Rechten und Werten der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist.“ Das sind schöne und treffende Worte. Treffend vor allem für den obersten Richter und Präsidenten einer Institution, die wie keine andere in Europa für die Einhaltung der Menschenrechte sorgt, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Es sind Worte, die der Präsident, Robert Ragnar Spano in seiner Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an ihn in der Universität Istanbul hielt.
Diese Rede ist sehr interessant. In ihr lobt der Präsident, der zuvor ein, zwei Tage durch die Türkei gereist war und sich mit den Statthaltern des Autokraten Erdogan getroffen hatte, die religiöse Vielfalt des Landes. Aber auch, dass damit vielleicht nicht alles in bester Ordnung ist, ließ er nicht unerwähnt. Er spielte allerdings bloß auf einen einzigen, recht kleinen und zudem noch vier Jahre zurückliegenden, vor seinem Gerichtshof verhandelten Fall an, in dem die religiöse Minderheit der Sufiten benachteiligt worden war. Er ließ aber offen, ob das entsprechende Urteil des Gerichts in der Türkei auch umgesetzt worden war. Außerdem ließ er offen, das heißt er ließ gänzlich unerwähnt, dass in der Türkei so gut wie kein Urteil seines Menschenrechtsgerichtshofs umgesetzt wird. Dass die Türkei sich einen feuchten Kehricht um die Rechtsprechung seines Gerichtes schert. Dass die Türkei also ein Land ist, in dem unterm Autokraten Erdogan die Menschenrechte quasi außer Kraft sind.
Allein im vergangenen Jahr befasste sich Robert Ragna Spanos Straßburger Gericht in 9.250 Verfahren mit Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Gleich hinter Russland ist die Türkei also Spanos Hauptarbeitsgebiet. Hier sitzen Abertausende von Erdogan-Kritikern seit Jahren rechtswidrig in Gefängnissen. Weitere werden Woche für Woche von einer regimehörigen Justiz mit der absurden Behauptung, einer „terroristischen Vereinigung“ anzugehören, angeklagt und verurteilt. Basak Demirtas, die Ehefrau des seit vier Jahren inhaftierten Kurdenpolitikers Selahattin Demirtas, hatte Spano um eine Unterredung angefleht. Schließlich gibt es ein Urteil von Spanos Menschenrechtsgerichtshof, wonach Demirtas widerrechtlich im Gefängnis ist. Bisher ohne Konsequenzen in der Türkei. Spano aber traf sich nicht mit ihr, sondern mit Erdogan und seinen Paladinen.
Auf die Frage, warum er ausgerechnet in einem solchen Land wie der Türkei eine Ehrendoktorwürde entgegennehme, antworte Spano lapidar, dass ihn die Tradition dazu verpflichte, aus einem Mitgliedsland des Europarates eine solche Würde anzunehmen. Tradition! Natürlich. Auch Länder wie Russland und die Türkei haben Traditionen. Sie sperren traditionell ihre Kritiker ein oder vergiften sie. – Es hätte einem Richter gut angestanden, zwischen den Traditionen abzuwägen. Aber wie sagte einst Theodor Fontane: Manche Hähne glauben, dass die Sonne ihretwegen aufgeht. Treffender noch hat es Marie von Ebner-Eschenbach ausgedrückt: Wo Eitelkeit anfängt, hört der Verstand auf.
WDR 3 Resonanzen 8. September 2020