Man könnte es als einen Treppenwitz oder gar als eine Hinterlist der Geschichte bezeichnen, dass der heutige Tag, an dem in Bayern möglicherweise ein Alkoholverbot ausgesprochen wird, auf den 250. Geburtstag des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel fällt. Nicht etwa, weil Hegel ein Mann war, der dem Alkohol, vor allem dem Bordeauxwein, sehr gerne zusprach. Und man entsprechend vermuten könnte, er hätte im Bayrischen Verbot eine Einschränkung seiner persönlichen Freiheit gesehen. So, wie es sehr viele in dieser Republik tun angesichts der Beschränkungen, die ihnen der Staat wegen der Corona-Krise auferlegt. Hegel dagegen hätte diese Freiheitsbeschränkungen nicht kritisiert, sondern er hätte sie begrüßt.
Das liegt daran, dass er einen etwas anderen Begriff von Freiheit hatte als die, die gegen Corona-Regeln protestieren. Er verstand unter Freiheit nicht, dass jeder tun und lassen kann, was er will. Auszuwählen zwischen vielen Möglichkeiten bedeutete für ihn bloß Willkür. Wer an Corona-Partys teilnimmt oder gegen staatliche Corona-Beschränkungen verstößt, macht im Sinne Hegels nicht sein Recht auf freies Handeln geltend, sondern handelt willkürlich. Und verstößtdamit gegen die Freiheit. Freiheit entsteht erst dann, wenn die Vernunft den Willen bestimmt.
Mit bis dahin noch nie da gewesener Entschlossenheit hat Hegel die Idee der Freiheit ins Zentrum seines Nachdenkens gestellt. Für ihn war die Freiheit das Prinzipdes Menschseins, der Daseinsweise des Menschen überhaupt. Und zwar ist Freiheit für ihn deshalb eine Sache von Alles oder Nichts, weil sie für ihn die Fähigkeit bedeutet, sich selbst zu bestimmen. Freiheit ist die Fähigkeit der Selbstbestimmung. Und die wiederum setzt voraus, dass der Mensch ein Wesen ist, dass sich selber denken kann.
Diesem Prozess des Sich-Selberdenkens, der Genese des Selbstbewusstseins also, ist das Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Hauptwerk, der „Phänomenologie des Geistes“, gewidmet. In diesem schönsten Gedanken der idealistischen Philosophie legt er dar, dass das eigene Selbst abhängig von der Anerkennung eines anderen Selbst ist. Selbstbewusstsein ist nie vollkommen einsam. Selbsterkenntnis ist nur gesellschaftlich möglich. Das heißt: Ich kann nur als sozialesWesen beginnen, über mich selbst nachzudenken. Und das heißt selbstverständlich auch, dass meine eigene Freiheit immer nur eine gesellschaftlich, und das bedeutet für Hegel: Eine durch die Vernunft begrenzte und bestimmte Freiheit sein kann.
„Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Dieser Satz wurde Hegel immer als Affirmation des damaligen preußischen Polizeistaates ausgelegt. Doch für Hegel ist nicht alles „wirklich“, was existiert. Nur das Vernünftige ist die wahre Wirklichkeit. So lange der Staat die Freiheit aller seiner Mitglieder garantiert, handelt er vernünftig. Auch dann, wenn er die Freiheit der bloß willkürlich Handelnden einschränkt.
WDR 3 Mosaik 27. August 2020