Jörg Fauser, Alles muss ganz anders werden. Erzählungen 1975 – 79. Diogenes 2020. 288 Seiten. 24 Euro
https://www1.wdr.de/kultur/buecher/fauser-alles-muss-ganz-anders-werden-100.html
Carl träumt nachts davon, wie er in der Spitfire-Bar in Alexandria die Königin von Saba tanzen sieht. Als er aufwacht, hat er einen gewaltigen Kater. Aber es hilft nichts. Er muss aufs Arbeitsamt. Den ganzen Vormittag schubst ihn ein unwilliger Berater zum nächsten. Doch als er rauskommt, hat er einen Zettel mit der Adresse der Bäckerei Fischinger in Offenbach in der Tasche. Waffelverkäufer. Darauf muss er zuerst mal in den Stehausschank. Ein, zwei, drei Schnäpse. Gegen die Kälte. Mit dem Rentner am Einarmigen Banditen trinkt er Bier…
Dann ging die Tür auf, und mit einem Schub Kälte und einem Wischer Regen kam die Königin von Saba in den Stehausschank. Die Königin von Saba war eine Königin im Exil, das sah jeder, der sie betrachtete. Ihr langer schwarzer Mantel war zerfranst und fleckig, das grüne Kleid darunter an den Ärmeln zerrissen und sie selbst schon etwas aus der Füllung. Aber ihr Gesicht, wenn auch gezeichnet von ihrem Exil, war immer noch schön, auch wenn der Schatten eines mittelschweren Rausches jetzt auf ihm lag. Carl setzte sich zu ihr. Sie sah ihn an, lächelte und fragte: „Wie heißt du denn?“ „Johnny Tristano“, sagte Carl. „Und du?“ „Lola Love“, sagte die Königin von Saba.
„Johnny Tristano“ nennt sich der Erzähler in vielen dieser Geschichten aus den siebziger Jahren und ist erkennbar das Alter Ego des Schriftstellers Jörg Fauser. – Fauser hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass der Stoff seines Schreibens aus seinem Leben bestand, doch hat er aus dieser Vermischung von Autobiographie und Literatur ein dem amerikanischen „new journalism“ entlehntes eigenes Programm gemacht. An den zwischen 1975 und 1979 entstandenen Erzählungen kann man nachverfolgen, wieer es entwickelte, wie er sich allmählich einen selbständigen Stil erarbeitete, zu einer unverwechselbaren literarischen Handschrift fand. Die hier versammelten Geschichten besitzen durchaus unterschiedliche Qualität. Die frühen Stilübungen sind amerikanischen Vorbildern, vor allem Raymond Chandler, nachempfunden, sind schwächliche Mimikry. Doch von dem Augenblick an, wo Fauser seinen Vorbildern in einem ihm vertrauten Ambiente, im Frankfurter Drogen- und Kneipenmilieu nacheifert, verschärft sich seine Wahrnehmung, wird sein Schreiben sensibler, bekommt eine eigene, kräftige Statur.
Bornheim tätschelt Tristanos Schulter und sagt: „Meine Runde! Bring drei!“ Und die blaue Nacht schlingert durch die endlose Kanalzone der Stunden bis Mittag, wenn jedes Glas seltsamer schmeckt und jedes Wort sich schwerer spricht und jede Berührung ein Stoß in den Abgrund sein kann.
Die zeitlich ersten hier versammelten Erzählungen erschienen ursprünglich in Underground-Zeitschriften wie „Gasolin 23“, die letzten in etablierten Magazinen wie „Playboy“ oder „lui“. Daraus die Entwicklung Jörg Fausers vom Untergrund-Schreiber zum seriösen Autor ablesen zu wollen, wäre ein Fehlschluss. Zwar spiegelt die Auswahl seine Reifung zu einem ernstzunehmenden Schriftsteller und Romancier, doch „underground“ blieb Fauser Zeit seines kurzen Lebens. Ein Außenseiter. Das liegt zum einen an seinem den Drogen gewidmeten Leben und seinen entsprechend aus randständigen Milieus stammenden Themen. Und zu sehr war er seinen großen amerikanischen Vorbildern Ginsberg, Burroughs und Buckowski – mit dem er übrigens gut befreundet war, verpflichtet. Wie sie war und blieb er einer, der sich im großstädtischen Morast herumtreibt und das Leben der dort Gestrandeten beschreibt. Ein „Asphaltliterat“. Als solcher stilisiert er sich auch immer wieder in seinen Erzählungen.
Das Mädchen ist schon auf dem nächsten Treppenabsatz. Tristano folgt schwer atmend. „Ganz oben Kind, geh schon vor. Ich bin etwas außer Form. Zu viele Nächte um die Ohren geschlagen, über der Schreibmaschine gebrütet, im Schnaps gesuhlt. Aber keine Angst, da läuft noch was.“
Die Welt, in die diese frühen Erzählungen Jörg Fausers den Leser führen, ist eine kaputte Welt des Suffs und des „sozialen Abstiegs“, wie man so sagt. Die Größe des Schriftstellers Fauser erweist sich, wenn er zeigt, dass es in dieser Welt nicht nur Schäbiges, sondern oft sehr viel mehr Würde, Anstand, ja sogar mehr Liebe gibt als in der der Wohlhabenden und Wohlmeinenden.
An der Wand drückt sich Kratzky, der Stillste im Lande, mit einem Veilchen am Auge und einem Schorf am Mund, auf einer Bank, in seinem Arm die Prinzessin, von deren Perücke eine Kunstfaserlocke in das gemeinsame Weißbierglas hängt. Die Prinzessin schnarcht mit offenem Mund und Kratzky streichelt ihr behutsam über die Hände und flüstert: „Es wird schon alles gut.“
WDR 3 Mosaik 24. August 2020