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Die sogenannte Istanbul-Konvention aus dem Jahr 2011 ist ein „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“. Polen hatte die Konvention 2015 ratifiziert, doch haben seitdem dort konservative PIS-Regierungen das Sagen und wollen die Polen aus der Konvention hinaus haben. Jetzt kündigte Polens Justizminister Ziobro den endgültigen Austritt seines Landes aus der Konvention an.
Die 33 Staaten, die die sogenannte Istanbul-Konvention unterzeichneten, verpflichten sich, jegliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie alle Formen häuslicher Gewalt als Verbrechen einzustufen und sich gegen Diskriminierung einzusetzen. Der polnische Justizministers Zbigniew Ziobro bezeichnete dieses Abkommen als eine „feministische Schöpfung zur Rechtfertigung der homosexuellen Ideologie“. Für jemanden, für den Frauen vor allem für die Geburt und Aufzucht von Kindern zuständig sind, ist das ein plausibles Argument. Mit dem betreibt Polen zur Zeit den Austritt aus dem Abkommen. Im Schulterschluss übrigens mit der Türkei.
Das wirft die polemische Frage auf, ob sich Polen nicht lieber mit der Türkei zusammentun und gemeinsam mit Ungarn und Bulgarien die Europäische Union verlassen sollte? Ungarn und Bulgarien weigerten sich bislang nämlich der Konvention überhaupt beizutreten. Die besagten Länder könnten sich dann zu einer neuen Gemeinschaft zusammentun, in der Homosexualität als krank gilt, Frauen geschlagen werden dürfen, und überhaupt die demokratischen Freiheits- und Menschenrechte nicht so wichtig sind. Mit den Werten der Europäischen Union jedenfalls haben Polen und Ungarn immer weniger zu tun. Seit geraumer Zeit steuern die Regierungen beider Staaten mit Bedacht und mit Nachdruck in Richtung autoritärer Regime. Und niemand hält sie auf. Offensichtlich auch die Europäische Gemeinschaft nicht.
Denn zumindest der Europäischen Kommission scheint die Bindung ihrer Mitglieder an demokratische Standards ziemlich egal zu sein. Bei der Verteilung der Corona-Hilfen auf dem letzten Gipfel hätte sie die Möglichkeit gehabt, den Empfang dieser Hilfen von der Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien abhängig zu machen, Polens und Ungarns antidemokratischen Alleingang zu stoppen. Sie hat es nicht getan. Sie hat sich von beiden erpressen lassen. Der Zusammenhalt der Union war ihr wichtiger. Das kann man auch so sehen. Gibt es doch viele Stimmen, die die Beschlüsse des Sondergipfels letzte Woche für einen außerordentlichen Beweis des europäischen Gemeinschaftsgeistes halten.
Aber was ist dieser Gemeinschaftsgeist noch wert, wenn er nicht mehr auf einer gemeinsamen und verbindlichen Vorstellung davon beruht, wie in den einzelnen Staaten der Gemeinschaft rechtsstaatliche Prinzipien zu bewahren sind? Selbst wenn man sich darauf einigen könnte, dass die schöne Idee „Europa“ auf die eines gemeinsamen Binnenmarktes geschrumpft und die Utopie einer Europäischen Gemeinschaft auf die trockene Konstruktion einer Fiskalunion herunter dividiert würde. Selbst ein gemeinsamer Binnenmarkt kann nur dann funktionieren, wenn man sich auf die rechtsstaatliche Qualität der Gerichtsurteile der anderen Mitgliedsstaaten verlassen kann.
Die Sieger-Posen mit denen der ungarische und der polnische Staatschef den Sondergipfel verließen, lassen aber befürchten, dass wir uns von der Vorstellung einer gemeinsamen Wertegemeinschaft werden verabschieden müssen. Der Gipfel hat die Demokratiefeinde in Europa gestärkt, sie zu solchen Alleingängen wie dem polnischen bei der Abkehr von den Frauenrechten ermuntert.
Wird es so weiter gehen? Wird die demokratische Substanz der Europäischen Union schmelzen wie das Eis der Arktis? Die Proteste aus dem Europa-Parlament und aus dem Europa-Rat lassen hoffen, dass Europa doch noch die Kraft findet sich eine stabile, auf Mehrheits- statt auf Einstimmigkeitsbeschlüssen beruhende Verfassung zu geben. Danach erst kann man weiter sehen.
WDR 3 Resonanzen 27.Juli 2020