Kaum jemand hatte mehr Gespür für die ironischen Volten der Geschichte als Karl Marx. Der Autor des „Kapitals“ würde sich kaputtlachen, wenn er erführe, dass sich in seinem Trierer Wohnhaus heute ein Ein-Euro-Shop befindet. Ob Adolf Hitler ähnlich amüsiert wäre angesichts der Umwidmung seines Braunauer Geburtshauses in eine schnöde Polizeistation, lässt sich dagegen bezweifeln. Fest steht hingegen, dass sich an historischen Gebäuden bestens der Hintersinn der Geschichte demonstrieren lässt.
Das trifft auch auf die Villa im vornehmen Berliner Stadtteil Dahlem zu, in der seit 2004 die deutschen Bundespräsidenten wohnen. Die erste mit diesem Haus verbundene Ironie besteht darin, dass sich ihr Eigentümer – die Bundesrepublik Deutschland – bis vor kurzem nicht die Bohne für dessen Geschichte interessierte. So kam es, dass die obersten Repräsentanten Deutschlands lange Jahre in einem Haus wohnten, dessen jüdischer Vorbesitzer 1933 quasi zwangsenteignet wurde. Das kam erst im Jahr 2014 heraus, als der Historiker Julien Reitzenstein dem Bundespräsidialamt seine Forschungen über die „Arisierung“ der Villa präsentierte. Zwei Jahre später, als vor dem Haus ein „Stolperstein“ zum Gedenken an die Vorbesitzer, das Ehepaar Hugo und Maria Heymann, installiert werden sollte, kam es dann zum öffentlichen Protest gegen die „Vergesslichkeit“ der bundesdeutschen Regierungen.
Dabei offenbarte sich dann eine weitere Ironie der Geschichte, und die beleuchtet das Verhältnis der frühen Bundesrepublik zu ihrem Rechtsvorgänger, der Nazidiktatur. Als die Witwe Hugo Heymanns nach 1945 um eine Entschädigung für die unter großem Druck viel zu billig verkaufte Villa stritt, lehnte das zuständige Gericht ab. Begründung: Heymann, der zunächst in Deutschland blieb, hätte doch warten und einen besseren Preis aufrufen können als 1933, als die Immobilienpreise im Keller waren!
Dies alles ist in einem historischen Gutachten nachzulesen, das das Bundespräsidialamt in Auftrag gab. Seit 2018 erinnert eine Stele vor der Dahlemer Villa an deren Vergangenheit. – Die jetzt neu gefundenen Dokumente bereichern die Aufarbeitung der Geschichte des Gebäudes nicht nur „enorm“, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erfreut mitteilte. Sie offenbaren auch eine weitere Ironie der Geschichte. Eines der Dokumente im Nachlass der Witwe Hugo Heymanns ist eine Urkunde des NS-Regimes von 1936. Darin wurdeHeymann „im Namen des Führers“ die Verleihung des Ehrenkreuzes für Teilnehmer des Ersten Weltkriegs bescheinigt. Der so Geehrte starb zwei Jahre später, ein paar Tage bevor er nach Norwegen emigrieren konnte, an den Folgen eines Gestapo-„Verhörs“.
Und wenn man dann im historischen Gutachten noch liest, dass der dem Nazi-Regime gefällig verbundene Potsdamer Verleger Waldemar Gerber die Villa für einen Schnäppchen-Preis erwarb. Und dass diesem Waldemar Gerber nach 1945 ausgerechnet vom damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss bescheinigt wurde, kein Nazi gewesen zu sein: Wer kann dann noch bezweifeln, dass sich der Sinn von Geschichte am besten an ihren Treppenwitzen erkennen lässt.
WDR 3 Mosaik 26. Juni 2020