„Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Damit ist das fast sechsjährige heldenhafte Ringen zu Ende.“
Am 7. Mai 1945 verkündet die letzte nationalsozialistische Regierung in Flensburg das Ende des Zweiten Weltkrieges. In der Nacht zum 8. Mai unterzeichnen Wehrmachtsgeneräle im französischen Reims die bedingungslose Kapitulation des Dritten Reiches. Am 8. Mai wird die Zeremonie in Berlin wiederholt.
„Wir, die wir im Namen des Deutschen Oberkommandos handeln, erklären die bedingungslose Kapitulation aller unserer Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft vor dem Oberkommando der Roten Armee und gleichzeitig vor dem Oberkommando der Alliierten Expeditionsstreitkräfte. Unterzeichnet am 8. Mai 1945 in Berlin.“
„Die jüngere Generation war zunächst einmal enttäuscht, weil der Krieg zu Ende war, weil wir, ich sage mal in Anfügungszeichen „verloren“ hatten. Und wenn ich mal zurückgehe auf mein Kriegstagebuch, da hab ich an diesem Tag reingeschrieben: „Verflucht, verflucht, verflucht!“
Wie Günter Nowak, der damals 18 Jahre alt war, ging es sehr vielen Deutschen. Sie empfanden die Niederlage und Kapitulation als Katastrophe, als „Zusammenbruch“, als Schmach und das Ende aller ihrer Zukunftserwartungen. Dieses Erleben prägte die Erinnerung und damit die deutsche Erinnerungs- und Gedenkkultur an den 8. Mai in den folgenden Jahrzehnten nachhaltig. Für die meisten Deutschen war der 8. Mai, wie der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker noch im Jahr 1985 sagte, „kein Tag zum Feiern“. Lange blieb es ein Tag der Schmach. Als ein solcher blieb er auch noch zu Beginn des neuen Jahrtausends der WDR-Journalistin Carola Stern in Erinnerung. Sie war als Mädchen und junge Frau im „Dritten Reich“ eine glühende Hitler-Verehrerin und Nationalsozialistin.
„Am 8. Mai ging ich mit meinem kleinen Vetter auf den Marktplatz und da fand eine Siegesparade der Alliierten statt und wir standen da neben halbverhungerten Männern, die trugen noch ihre KZ-Kleidung. Und ich dachte wieder nur: Die Soldaten da und die KZ-Häftlinge, das sind die Sieger, wir sind die Besiegten und wir sollten uns das nicht ansehen. Dann sind wir weggegangen.“
„Deutsche Hörer, wie bitter ist es, wenn der Jubel der Welt der Niederlage, der tiefsten Demütigung des eigenen Landes gilt?“
Zwei Tage später, am 10 Mai, spricht Thomas Mann aus dem Exil über die britische BBC, wie schon während des ganzen Krieges, noch einmal zu seinen „deutschen Hörern“.
„Und dennoch: Die Stunde ist groß, nicht nur für die Siegerwelt, auch für Deutschland. Die Stunde, wo der Drache zur Strecke gebracht ist, das wüste und krankhafte Ungeheuer Nationalsozialismus im Land verröchelt und Deutschland wenigstens von dem Fluch befreit ist das ‚Land Hitlers’ zu heißen. Wenn es sich selbst hätte befreien können anstatt nun das Ende des Hitlertums zugleich der völlige Zusammenbruch Deutschlands ist, – das wäre besser, wäre das Allerwünschenswerteste gewesen. Es konnte wohl nicht sein. Die Befreiung musste von außen kommen.“
„Die Frage des 8. Mais als „Befreiung“ oder „Niederlage“ ist auch heute noch virulent.“
Der Freiburger NS-Forscher und Zeithistoriker Ulrich Herbert.
„Für einen Großteil der deutschen Bevölkerung, die es mit den Nazis hielten, war das keine Befreiung. Höchstes im Nachhinein, weil sie Glück gehabt haben, dass sie es überlebt haben. Für einen Großteil der Deutschen war es weder das eine noch das andere, sondern die Erleichterung, davongekommen zu sein.“
Und dennoch wird es bis weit in die Nachkriegsgeschichte des geteilten Deutschland hinein eine teilweise erbitterte Auseinandersetzung darüber geben, auf welche Weise man dieses 8. Mais 1945 gedenkt. In der unter sowjetischem Einfluss stehenden DDR ist es, wie in der Sowjetunion selbst, der gefeierte Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus. In der westlich orientierten Bundesrepublik dagegen mochte eigentlich niemand einen Gedenktag daraus machen. Zwar markiert das Datum den „Zusammenbruch“. Aber eben weil viele darin nach wie vor eine „Katastrophe“ sehen, gibt es für sie nichts zu gedenken. Noch anderthalb Jahre später, als in Nürnberg die Kriegsverbrecher vor Gericht stehen, überwiegt bei ihnen die Trauer über das Untergegangene.
„Und ich erinnere mich noch, als die Todesurteile im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess bekannt gegeben wurden, da stand ich mit einigen technischen Rechnerinnen und Sekretärinnen zusammen und wir sagten: Das sind unsere Leute, die da hingerichtet werden. Verblendung vergeht nicht von heute auf morgen.“
Lange kam das heute, zum 75. Jahrestag des 8. Mai 1945, vorgebrachte Ansinnen, aus diesem einen nationalen Feiertag zu machen, niemand in den Sinn. Ulrich Herbert:
„Was nun die verschiedenen Arten und Weisen, sich daran zu erinnern betrifft, das hat auch seine Konjunkturen. Wir haben ja in Deutschland, dass wir unserer Väter oder Großväter oder Onkels, die als Soldaten in der Wehrmacht gedient haben, nicht so richtig gedenken können. Das war in den 5oer und 60er Jahren ja noch anders und konnte auch jenseits aller politischen Implikationen als das Gedenken an die Millionen von toten Soldaten geschehen.“
Doch ab der Mitte der 1960er findet ein Umdenken statt, nachdem man auch in Westdeutschland mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen begonnen hat. Die Ausschwitz-Prozesse, der Eichmann-Prozess in Jerusalem, die emotionalen Auseinandersetzungen der „68er“ mit der Eltern- als der „Täter“-Generation, schließlich die Ausstrahlung des amerikanischen Fernsehfilms „Holocaust“ im Jahr 1979 markieren den Weg hin zu einer neuen Sicht auf den 8. Mai 1945.
„Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte.“
Bundespräsident Richard von Weisäcker in seiner Ansprache vor dem Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985.
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
Damit war das Wort, das bereits Thomas Mann in seiner Radioansprache vom 10. Mai 1945 benutzte, endlich im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik angekommen: Tag der Befreiung.
„Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“
Ulrich Herbert:
„Man muss die Rede von Weizsäckers von 1985 ebenfalls unter einem historischen Kontext eben dieser Zeit betrachten. Und im Kontext dieser Zeit war es ein Fortschritt. Ein Fortschritt war hier: Der oberste Repräsentant des Staates, der westlichen Bundesrepublik, der an die verschiedenen Opfer des Krieges und des Nationalsozialismus erinnerte und auch an diejenigen, die bis dahin nur in Teilen oder gar nicht in der Öffentlichkeit berücksichtigt worden sind. Das war ein Befreiungsschlag von Weizsäcker. Dass er damit nur die Hälfte der zu berichtenden Wahrheit sagte, nämlich die Täter ausblendete, ist unübersehbar. War aber Mitte der 80er Jahre auch in der Öffentlichkeit und auch in der Forschung noch kein so zentrales Thema. Das hat erst Ende der 80er Jahre begonnen, den Fokus stärker darauf zu richten.“
Zunächst nämlich folgte, gerade ein Jahr auf die Weizsäcker-Rede von 1985, der sogenannte Historiker-Streit: Rechte Historiker versuchten, den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zu relativieren. Unter anderem ging es dabei auch explizit um den 8. Mai und Weizsäckers Diktum vom „Tag der Befreiung“. Man müsse, hielt der Historiker Andreas Hillgruber dagegen, diesen Tag aus der Perspektive „des deutschen Soldaten“ sehen. Diese „revisionistische“ Sicht setzte sich allerdings nicht durch. Es blieb beim „Tag der Befreiung“. – Doch wie zäh eine gründliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen auch weiterhin verlief, zeigten einerseits die Widerstände, auf die die sogenannte Wehrmachtsausstellung von 1995 an stieß. Andererseits Tendenzen, den 8. Mai doch wieder als Leidens- und Opfergeschichte der Deutschen zu erzählen. So wie sie sich etwa im Jahr 2002 in Jörg Friedrichs viel beachteten Buch „Der Brand“ über den alliierten Bombenangriff auf Dresden niederschlugen. – Erst heute herrscht in der deutschen Gesellschaft ein weitgehender Konsens darüber, dass die NS-Herrschaft eine Verbrechensherrschaft war. Ulrich Herbert:
„Dieser Konsens ist nicht ungefährdet, aber stabil, der darauf beruht, dass die Bundesrepublik sich sehr wesentlich von anderen westlichen Staaten unterscheidet: Dass sie gewissermaßen diesen historischen Vorlauf hat, auf den sie sich ganz grundlegend in fast allem bezieht. Bis heute. Wenn wir heute darüber diskutieren, wie weit gehen die Grundrechtseinschränkungen der derzeitigen Corona-Epidemie, so wird auf die NS-Zeit bezogen oder auf das Ermächtigungsgesetz. Wir haben keine Möglichkeit, dem zu entfliehen; und tun das auch nicht. Insofern hat dieser langjährige, 50-, 60-jährige Prozess der Auseinandersetzung mit NS-Vergangenheit, zu der der 8. Mai als Symboldatum auch gehört, dazu beigetragen, dass diese Gesellschaft sich in größeren Teilen durch die Distanz zu NS-Verbrechen definiert.“
WDR 5 Scala, 6. Mai 2020