Frans Timmermans, Exekutiv-Vizepräsident der Europäischen Union, veröffentlichte gestern gemeinsam mit dem Solartechnik-Unternehmer Bertrand Piccard in fast sämtlichen internationalen Medien einen Aufruf: Ein „Weiter so“ unseres Wirtschaftsystems dürfe es nach der Corona-Krise auf keinen Fall geben. Vielmehr böte die Krise die „enorme“ Chance, die Wirtschaft auf „saubere Technologien“ umzurüsten. Umweltschädliche durch moderne und effiziente Infrastrukturen zu ersetzen und damit eine „viel bessere Situation als vor der Krise zu schaffen.“ – Aber bietet die Krise tatsächlich nur die Chance für bessere Technologien?
Dass Krisen immer auch als Chancen zu sehen sind, weiß die psychologische Ratgeberliteratur seit langem. Aus Krisen, behauptet sie, lernten wir das Leben mehr zu schätzen, uns nicht mehr über Kleinigkeiten aufzuregen, dafür aber unsere eigentlichen Bedürfnisse wichtig zu nehmen. – In den Kanon solcher Gemeinplätze stimmen derzeit viele ein. Selbst die Unternehmerverbände entdecken urplötzlich die Überflüssigkeit von „Meetings“ und die Bedeutung des „Homeoffice“.
Auch der EU-Obere Frans Timmermans denkt in seinem gestern veröffentlichten Aufruf über die sich durch die Krise ergebende Chance für eine neue Art des sauberen und umweltfreundlichen Wirtschaftens nach. Bloß, dass in seinem Papier immer noch verdächtig viel von „Effizienz“, „Wettbewerbsfähigkeit“ und „Wachstum“ – wenn auch „qualitativem“ – die Rede ist.
Was aber, wenn wir aus der Krise lernten, uns endlich ganz von der Idee des Wachstums zu verabschieden? Volkswirtschaftler haben längst schon vorgerechnet, dass auch moderne kapitalistische Wirtschaftssysteme auf einer niedrigen Produktionsebene und ohne Wachstum stabil und funktionsfähig sein können. Man muss nicht ständig mehr produzieren. Man muss auch nicht ständig mehr verdienen. Entsprechend muss bzw. kann man auch nicht ständig mehr konsumieren. Die meisten Arbeitnehmer müssen sich darin übrigens schon seit längerem üben. Und jetzt erst recht, jetzt in der Krise. Warum das nicht weiterdenken? Allesamt arbeiten wir in Zukunft weniger. Verdienen weniger. Konsumieren weniger. Die Krise bietet ein schönes Übungsfeld dafür.
Und wer soll das bezahlen? Wer kommt für die auf, die trotz Arbeit nicht klar kommen? – Das waren übrigens schon vor der Krise viele Millionen. – Die Krise bietet die Chance, neu, gründlich und radikaler über die Rolle des Staates als existenzsichernde und umverteilende gesellschaftliche Instanz nachzudenken. Die Idee des im neoliberalen Marktwahn zugrunde gerichteten Sozialstaates zu reaktivieren. Und in dem Zusammenhang endlich den Gedanken eines Grundeinkommens für alle zu beleben. Und damit des weiteren der Frage nachzugehen, wie das zu finanzieren sei.
Jetzt, wo in der Krise so viel von „Solidarität“ die Rede ist: Was läge näher, als die „Solidarität“ der Superreichen, der Reichen und ja, auch der „Besserverdienenden“ dafür in Anspruch zu nehmen? Die Spitzensteuersätze drastisch zu erhöhen? Konsequent Erbschaftssteuer einzutreiben? Die Sozialsysteme auf eine viel breitere Basis zu stellen? Die verschüttete Idee des „Bürgergeldes“ wieder auszugraben? Private und gesetzliche Krankenversicherungen endlich zusammen zu legen? Und damit wieder ein nicht allein dem Profit verpflichtetes Gesundheits- und Krankenhaussystem zu installieren. Sondern eines, das bei der nächsten Krise nicht zu kollabieren droht?
In der Ratgeberliteratur dazu, was aus Krisen zu lernen ist, heißt es öfters: Dass man zurück zum Glauben finden kann. – Diese Krise bietet vielleicht die Chance, zurück zum Glauben an den Staat zu finden. Nicht mehr als den eisernen Sachwalter der „Schwarzen Null“. Sondern als den eines geduldigen, gütigen und gerechten Garanten des Wohles aller.
WDR 3 Resonanzen 17. April 2020