Georges Perec, Das Attentat von Sarajewo. Übersetzt von Jürgen Ritte. Diaphanes Verlag 2020. 144 Seiten. 20,00 Euro
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Es ist eine schlichte Geschichte. Für einen modernen, 1957 geschriebenen Roman eine vielleicht etwas zu schlichte Geschichte. Doch sollte man dem Autor sein Alter zugute halten. Er ist gerade erst 21. Seine Geschichte beginnt damit, dass dem Icherzähler während seines Pariser Studenten-Bohemien-Lebens einer Gruppe junger Jugoslawen begegnet, er ein paar Tage lang mit ihnen feiert und sich mit einem von ihnen, Branko, näher anfreundet. Bis dann eines Tages Brankos Freundin, Mila, in Paris auftaucht. Auf der Stelle verliebt er sich in sie, aber sie erwidert seine Liebe nicht und reist mit Branko zurück nach Belgrad. Doch schon Tage später schreibt sie dem Erzähler einen vielversprechenden Brief. Augenblicklich fährt er nach Belgrad, quartiert sich in ihrer Nähe ein und nutzt die kleinste Abwesenheit Brankos, um sie zu umwerben. Vergeblich. Mila mag ihn, aber sie liebt ihn nicht wirklich. Da sie ihm aber weiterhin Botschaften sendet, die auch anders zu interpretieren sind, bleibt er in Belgrad, wirbt weiter um sie, und – wird schließlich erhört. Mila liebt ihn, er liebt Mila. Übrig bleibt Branko. Tief getroffen entschließt der sich, nach Sarajevo zu fahren, wo seine Frau und ein Kind auf ihn warten. Er bittet den Erzähler, ihn zum Bahnhof zu bringen. Auf dem Weg trinken sie Schnaps und schamlos genießt der Erzähler den Triumph über seinen Rivalen.
Ich fühlte mich im Angesicht dieses Mannes, dem ich die Frau weggenommen hatte, rundum wohl. Das sage ich nicht, weil ich bewundert werden will, sondern weil es die reine Wahrheit ist.
An dieser Stelle spätestens beginnt der Leser zu ahnen, dass das dann doch keine so schlichte Geschichte wird. Und, nachdem ein paar Seiten später Branko dem Erzähler schreibt, er möge ihn in Sarajevo besuchen, damit sie dort die Angelegenheit bereinigen, wird auch klar, warum der Autor immer wieder Passagen über das Attentat von Sarajevo vom Juni 1914 in seinen Text einstreut. In diesen Passagen verteidigt er die jugendlichen Attentäter und rechtfertigt ihre. Gleichzeitig manövriert er in der eigentlichen Geschichte den Icherzähler immer mehr in eine Rechtfertigungshaltung. So, als stände der selbst vor Gericht und müsste sich für ein Verbrechen verantworten.
Die Frage ist nicht, ob ich recht oder unrecht habe. Ich weiß nur zu gut, dass ich bei manchen Gelegenheiten suspekt erscheinen konnte. Ich weiß sehr wohl, dass im Laufe meiner Erzählung winzige Widersprüche zutage getreten sind, die aufzuklären ich mich geweigert habe. – Aber niemals, wirklich niemals hätte ich Brankos Bitte nachkommen und nach Sarajevo fahren dürfen. Denn es kommt vor, dass sich die Dinge in Sarajevo nicht immer so abspielen, wie man es sich wünscht, und dass kleinste Ursachen umwerfende Wirkungen haben…
Aber, fragt sich der Leser, was ist denn geschehen? Der Erzähler ist ja überhaupt noch nicht in Sarajevo! Er hat Branko noch gar nicht getroffen! Weswegen verteidigt er sich , verstrickt sich dabei in Widersprüche und bezichtigt sich mehrfach der Lüge? – Ganz klar. Er hat es zwar noch nicht getan, aber er hat es ganz fest vor: er will Branko umbringen! Das Attentat von Sarajewo! – Wenige Seiten später – der Erzähler ist bereits in Sarajevo und hat Branko dort zum ersten Mal getroffen – offenbart er seinen Plan, wieer das machen wird, ohne selbst, wie die Attentäter von 1914, zur Waffe greifen zu müssen. – Dieser Plan ist ebenso raffiniert wie die doppelbödige Konstruktion der Geschichte. Und kann hier keineswegs verraten werden.
Klar allerdings wird bei der Lektüre dieses Romans eines 21-jährigen, dass es sich bei Georges Perec um einen zukünftigen Meister handelt. Man kann zwar noch nicht so ganz den Schöpfer der subtilen ironischen Verschachtelungen seiner künftigen Großwerke identifizieren. Dafür ist die Konstruktion mit der historischen Situation von 1914, – so viel Schwung sie auch in die Geschichte bringen mag, – doch zu wackelig. Und sind die Verstellungskünste des lügnerischen Erzählers nach einiger Zeit doch zu durchschaubar. Doch zeigt sich der spätere große Romankünstler allein schon daran, wie raffiniert der junge Perec in die Psyche seines Helden eindringt und dessen vordergründige Sentimentalität schließlich als kalkulierenden Machtwillen entlarvt. Ganz abgesehen davon, dass er dem Leser ein riesiges Vergnügen damit bereitet, ihn elegant aufs Glatteis zu führen.
Also? Also blieben vielleicht noch ein paar Erinnerungen. Die Erinnerung an eine Frau, die ich einmal sehr geliebt hatte, eine Frau, die sagte ‚Ich liebe Sie’, aber sagen wollte: ‚Ich mag Sie’. Das wusste ich, aber es war so bezaubernd, so zu tun als ob. Ich bereute nichts. Was wären diese Ferien schon ohne diese köstlichen Ängste des Verliebtseins gewesen? Ich reiste glücklich wieder ab. Ich hatte alles bekommen, was ich wollte.
WDR 3 Mosaik 6. April 2020