Das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR hat die Geduld verloren. In Anspielung auf eine vor Wochen verkündete Zusage von Bundesinnenminister Horst Seehofer erinnerte es daran, wie dringend angesichts der Corona-Krise die Aufnahme von unbetreute Kindern und Jugendlichen aus dem Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist. Einige Berliner Senatoren – der Justiz- und der Innensenator – sehen die Rettung ebenso als dringend an. Als eine Frage nicht von Tagen, sondern von Stunden. Denn angesichts von Corona wir das Moria-Camp zur Todesfalle. Vor allem für die vorerkrankten Jugendlichen. Deshalb haben sich die Berliner Senatoren mit der Hilfsorganisation Mission Lifeline zusammengetan. Die hat 55.000 Euro gesammelt, um aus Lesbos ein Flugzeug mit zunächst einmal 100 Flüchtlingen zu chartern. Für deren Unterbringung und Versorgung in Berlin oder Sachsen ist gesorgt. Das Innenministerium – zuständig z.B. für die Landeerlaubnis und die medizinische Untersuchung der Flüchtlinge, schweigt bisher dazu.
Einerseits verdrängt das Thema Corona alles aus den Medien und damit auch aus dem öffentlichen Bewusstsein, was ebenfalls wichtig ist. Andererseits aber gibt es kaum ein wichtiges anderes Thema, das nicht mit der Virus-Pandemie zusammenhängt. So löst sich beispielsweise die Flüchtlingskrise an den europäischen Grenzen keineswegs durch die Coronakrise auf. Im Gegenteil. Der Ausbruch des Virus in einem überfüllten Flüchtlingscamp führte unweigerlich zu einer humanitären Katastrophe, zu einem Massensterben.
Es gehört jedoch zu den Absurditäten des sogenannten zivilisierten Lebens in Europa, dass man die Ansteckungsgefahr ausschließlich für Europäer ernst nimmt, nicht aber für Flüchtlinge. So hat der griechische Staat eine Verordnung erlassen, nach der es eine Straftat ist, wenn sich mehr als zehn Leute auf der Straße treffen. Der gleiche Staat aber pfercht auf der Insel Lesbos seit Jahren mehr als 20.000 in für bloß 3.000 Menschen vorgesehene Lagern zusammen, also auf allerengstem Raum. Und wird es – trotz Corona – auch weiterhin tun.
Denn im ebenfalls seit Jahren in der Europäischen Union schwelenden Streit über die Evakuierung dieser Flüchtlinge ist noch lange kein Ende abzusehen. Die Europäer wollen einfach keine Flüchtlinge mehr haben. Und deshalb nahmen sie gleich zu deren Beginn die Corina-Krise zum Anlass, das europäische Asylrecht faktisch außer Kraft zu setzen. Sind denn nicht alle Flüchtlinge auch potentielle Corona-Überträger? Und hat nicht allein schon Deutschland genug damit zu tun, seine 170.000 Urlauber aus aller Welt nach Hause zurückzufliegen?
Doch um beim offenkundigen Elend im Lager Moria auf Lesbos nicht allzu hartherzig dazustehen, hat sich der deutsche Innenminister vor ein paar Wochen zu einer kleinen humanitären Geste durchgerungen. Er versprach, aus dem Moria-Lager bis zu 1.600 unbetreute, in der Mehrheit kranke Kinder und Jugendliche aufzunehmen. Das war – in Anbetracht von über 20.000 Menschen – vor vier Wochen schon nichts weiter als eine matte Geste. Doch von Woche zu Woche fuhr das Innenministerium die Zahl der aus Moria zu Rettenden zurück. Von Woche zu Woche versteckte es sich mehr hinter einer angeblich notwendigen „europäischen Lösung“ des Problems. Von Woche zu Woche stärker verzettelte es sich bei der Klärung der Frage, auf welche Bundesländer die Flüchtlinge denn verteilt werden sollten. Getan aber hat es bisher: Nichts.
Das dröhnende Schweigen Seehofers auf das Angebot des Berliner Justizsenators, auf eigene Kosten jetzt zuerst mal wenigstens 100 der Flüchtlinge einfliegen zu lassen und unterzubringen, entlarvt sein Versprechen endgültig als pure Heuchelei. In Bezug auf einen sich penetrant christkatholisch gebärdenden Innenminister darf an dieser Stelle auch mal die Bibel zitiert werden. Bei Matthäus nämlich findet sich ein wie auf die aktuelle Situation gemünzter Satz. „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr geht nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen.“
WDR 3 Mosaik 1. April 2020