Eine dem Leser lange im Sinn bleibende Geschichte vom Zynismus der Krisengewinnler erzählte der französische Romancier Pierre Lemaitre in seinem Roman „Wir sehen uns dort oben.“ Ein Unternehmer erhält vom Staat das Monopol, alle noch auf den Schlachtfeldern liegenden Soldatenleichname des Ersten Weltkriegs in Holzsärgen zu bergen, damit sie würdig bestattet werden können. Um am Holz für die Särge zu sparen, lässt er immer kleinere Särge bauen, wozu die Leichname der Gefallenen schließlich zerstückelt werden müssen.
Nun ist Zynismus, also Menschenverachtung, die hervorstechende Charaktereigenschaft aller Kriegs- und Krisengewinnler, angefangen von Brechts Mutter Courage bis hin, ja, zum Internethändler Amazon. Das Erstaunliche an Amazon jedoch ist und bleibt, welch freie Hand demokratische Gesellschaften dem Treiben des Online-Monopolisten nach wie vor lassen. Obwohl dessen Geschäftspraktiken sich schon länger am Rand des Kriminellen bewegen. Angefangen von seiner notorischen Weigerung, dort Steuern zu zahlen, wo er seine Gewinne generiert. Bis hin zur schlechten Behandlung seiner Angestellten, die er – Gipfel seines Zynismus – durch Werbespots mit deren gestellten Dementis zu widerlegen sucht.
Einen weiteren Grat im Gebirge seiner Rücksichtslosigkeit erklimmt Amazon in der aktuellen Coronakrise. Unter der Vorgabe, viele Kundinnen und Kunden hätten „keine andere Möglichkeit, an dringend benötigte Artikel“ zu kommen, verlagert der Konzern nun die Priorität seines Online-Vertriebs von Büchern auf Haushaltswaren, Sanitätsartikel und sonstige Produkte mit hoher Nachfrage, auch auf Lebensmittel. Klopapier statt Literatur. Scheinheilig beteuert der Online-Monopolist, dass „dies eine Änderung für unsere Verkaufspartner“ bedeute. Er bedanke sich für deren „Verständns“, dass er „diesen Produkten vorübergehend im Sinne unserer Kunden den Vorrang gebe.“
Das baut nicht nur die Monopolstellung Amazons gegenüber anderen Online-Anbietern von Gebrauchsartikeln aus, die über weniger Kundendaten verfügen. Das bricht vor allem den Verlagen das Genick, die Amazon bisher als eine Plattform für den Vertrieb ihrer Produkte nutzten. Sie klagen über den Einbruch ihres Online-Handels bis auf ein halbes Prozent der üblichen Menge. Und nicht nur die Verlage, auch die Buchhandlungen sind nicht nur Opfer der Corona-Krise, sondern auch von Amazons Verdrängungspolitik. Die Buchhandlungen mussten wegen des Ansteckungsrisikos schließen. Amazon aber kann dieses Risiko problemlos auf sein Auslieferungs-Personal verlagern.
Aber vielleicht bietet die Corona-Krise auch den Kleinen im Kulturbetrieb eine Chance. Einige Buchhandlungen sind dazu übergegangen, Kundenbestellungen mit eigenen Boten auszuliefern. Und vielleicht feiert auf diesem Weg auch endlich der Naturalientausch eine Renaissance. Literatur gegen Klopapier. Das wäre doch mal ein Anfang.
WDR 3 Mosaik 25. März 2020