Totalitäre Staaten haben ja doch auch ihre guten Seiten. Selbst für die Menschen, die in ihnen leben müssen. Nachdem er die umfassenden Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen in China besichtigt hatte, fielen dem Chef der Corona-Einsatzgruppe der Weltgesundheitsorganisation WHO nur lobende Worte ein. „China weiß, wie Menschen am Leben erhalten werden“, sagte er. Der Zweck, das Leben der Bürger, heiligt die Mittel, in dem Fall den Entzug ihrer Freiheit. In unseren westlichen freiheitlichen Demokratie wären solche Zwangsmaßnahmen natürlich nicht so ohne weiteres möglich, könnte man dieses Lob weiter interpretieren, aber sie wären doch wünschenswert.
Allerdings braucht man sich die rechtlichen Möglichkeiten zur Aufhebung von Freiheitsrechten im Infektions-Notstand nicht herbeizuwünschen. Es gibt sie bereits. Und zwar schon seit langem. Seit 1961 waren sie in der Bundesrepublik durch das „Bundesseuchengesetz“ geregelt. Das wurde im Jahr 2001 durch das „Infektionsschutzgesetz“ abgelöst. Das sieht neben einer Fülle hygienischer Maßnahmen „zum Zwecke der Gefahrenabwehr“ die Einschränkung fast sämtlicher durch das Grundgesetz garantierter Grundrechte vor. Es beschneidet unter anderen das „Recht auf körperliche Unversehrheit“, auf die „Freiheit der Person“, auf Versammlungsfreiheit, auf das Brief- und Postgeheimnis wie auf die „Unverletzlichkeit der Wohnung.“
Sähe also die Bundesregierung die Nation und das Leben ihrer Bürger durch eine massive Ausbreitung des Corona-Virus bedroht, könnte sie alle ihr untergeordneten Behörden mit der Durchführung entsprechender Maßnahmen beauftragen. Und die könnten sie auch zwangsweise durchsetzen: Vom Verbot von Versammlungen über Gruppen- und Personen-bezogenen Quarantänen bis zur Abriegelung ganzer Städte und der damit verbundenen Überwachung der Kommunikation. – Noch gibt sich der für die Vorbereitung solcher Szenarien zuständige Bundesinnenminister gelassen und verzichtet, um sich selbst vorm Virus zu schützen, bloß aufs Händeschütteln. Aber die Absperrung von Regionen und Städte mag er zur Stunde „als letztes Mittel“ dennoch nicht ausschließen.
Eine epidemische Infektion ist gleichbedeutend mit einem Ausnahmezustand. Und für einen Staat bedeutet der – siehe „Infektionsschutzgesetz“, siehe aber auch „Notstandsgesetz“ – die Aufhebung seiner Rechtsordnung, die Suspendierung seiner verfassungsmäßigen Grundrechte. Angesichts der rapide sich ausbreitenden Corona-Infektion und der sich noch rapider ausbreitenden Panik darum stellt sich die Frage, wie weit wir hier noch von der Ausrufung des Ausnahmezustandes entfernt sind. – „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, heißt der berühmte Satz Carl Schmitts, mit dem er die Notwendigkeit einer Diktatur begründete.
Davon sind wir hier selbstverständlich noch sternenweit entfernt und davor schützt uns – im Unterschied zu Weimar – auch unser inzwischen tief verinnerlichtes demokratisches Selbstverständnis. Doch sieht man auf die verfassungsrechtliche Wirklichkeit der Ur-Demokratie der Vereinigten Staaten, nachdem sie am 11. September 2001 den Ausnahmezustand erklärte, auf das Guantanamo-Gefängnis zum Beispiel oder auf die gezielten Drohnen-Tötungen, dann sollte man auf der Hut sein.
WDR 3 Mosaik 2. März 2020