Hans Fallada, Der eiserne Gustav. Roman. Urfassung. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jenny Williams. 831 Seiten. Aufbau Verlag. 26,00 Euro.
Im kulturellen Gedächtnis überlebt hat Falladas „eiserner Gustav“ lediglich als der von Heinz Rühmann im Film oder von Gustav Knuth im Fernsehen verkörperte bärbeißige Berliner Kutscher: Der zockelt mit seinem Gaul Grasmus von Berlin nach Paris und zurück, um fürs Überleben der Pferdedroschke zu demonstrieren. Der dieser Geschichte zugrundeliegende Roman dagegen ist weitgehend vergessen. Zu Recht. Denn es gab ihn eigentlich gar nicht. Dabei war er einmal, im Jahr 1937, ein riesengroßes Projekt. Die TOBIS-Filmproduktion hatte ihn bei dem seit dem Welterfolg „Kleiner Mann was nun?“ weltberühmten Autor Hans Fallada als Vorlage für ein Drehbuch angefordert. Der Filmstar Emil Jannings wollte unbedingt den Gustav spielen, Goebbels und sogar Hitler hatten größtes Interesse. Doch als Fallada im Frühjahr 1938 sein Manuskript einreichte, waren sie enttäuscht. Der Schriftsteller hatte den Roman 1928 enden lassen, also vor dem Aufstieg der Nazis. Goebbels ist empört. In seinem Tagebuch notiert er:
Aussprache mit Jannings. Ich halte ihm alle Schwächen seines Filmmanuskripts vor. Er ist zwar widerborstig, fasst sich dann doch. Das Ende wird gänzlich umgearbeitet und positiver gestaltet. Ich diktiere selbst einen neuen Schluss. Der sitzt nun aber!
Und so geschieht es. Goebbels zwingt Fallada, seinen Roman umzuschreiben, ihm eine „positive“ Wende zu verpassen. Jetzt hebt am Schluss der Eiserne Gustav die Hand zum Hitler-Gruß. Doch so richtig funktioniert die Geschichte mit dem angeklebten Nazi-Schwanz nicht mehr. Das Filmprojekt stirbt. Der Roman erscheint zwar Ende 1938, wird aber kein Erfolg. – 24 Jahre, später, 1962, macht sich ein Lektor des DDR-Aufbau-Verlags an die Rekonstruktion des „eisernen Gustav“. Da das Original-Manuskript verschollen ist, muss er die Fassung von 1938 bearbeiten. Doch tut er das so gründlich, dass seine Bearbeitung einer Verstümmelung gleichkommt. Einzig gelingt das Kappen des Nazi-Schwanzes und dessen Ersetzen durch das ursprünglich von Fallada geplante Ende. Ansonsten wird der Text einer stalinistischen Generalkur unterzogen, alle politischen Aussagen darin auf SED-Linie gebracht. Gleichzeitig zerstört der Überarbeiter Falladas Erzählstrategien. Streicht etwa alle Stellen, wo der das individuelle Schicksal seiner Figuren mit dem des deutschen Volkes verknüpft. Etwa die, wo der Eiserne Gustav, der vor dem 1. Weltkrieg ein wohlhabender Pferdetaxi-Unternehmer war, darüber nachsinnt, dass er jetzt, nach dem Krieg, kaum noch von seiner einzigen Droschke leben kann.
Hat er etwa geglaubt, dies bliebe ihm erspart…? Ihm blieb nichts erspart – das Leben hatte keine glücklichere Wendung für ihn im Hintergrund als für das Volk, zu dem er gehörte. Er wollte essen, wie das Volk essen wollte – und wie sein Volk konnte er sich sein Essen nicht aussuchen. Er musste es nehmen, wo er es fand. Es gefiel ihm ganz bestimmt nicht, betrunkene Kavaliere ins Bett zu schaffen. Aber wenn er Mutter Geld bringen wollte, so hatte er keine Wahl.
Die jetzt von Jenny Williams vorgenommene Rekonstruktion des „eisernen Gustav“ offenbart einen neuen, überraschenden Blick auf die Geschichte des Berliner Pferdekutschers Gustav Dahlmann. Die bekannte Episode der Berlin-Paris-Berlin-Fahrt nimmt hier nur mehr einen Bruchteil des ziegeldicken Romans ein. Der als Ganzes präsentiert sich nun als ein überwältigendes Geschichtsepos. Verpackt als Familienroman um den autoritären Gustav, der durch seine sture Prinzipienreiterei das Leben seiner fünf Kinder zerstört, malt er ein breites Bild der deutschen Gesellschaft vor, während und nach dem 1. Weltkrieg. Und das tut er so genau und so berührend, dass man das Buch selbst nach 800 Seiten nicht aus der Hand legen möchte.
WDR 5 Bücher 4. Januar 2020