Die Beschleunigungsmetaphern der modernen Gesellschaft haben ihren Ursprung nicht mehr in der menschlichen Physis, sondern in den von ihr benutzten Fahrzeugen. Kein Mensch sagt heute noch, jemand solle „seine Beine in die Hand nehmen“, wenn er ihn zu mehr Tempo auffordert. Auch sagt niemand mehr, er solle eine „Schippe Kohlen drauflegen“ oder einen „Zahn zulegen“. Im Autoland Deutschland sagt man einfach bloß noch: „Gib Gas!“.
Übers Weihnachtswochenende und auch danach wurde hier ordentlich aufs Gaspedal getreten. Endlich mal nahm der gesellschaftliche Diskurs erneut Fahrt auf. Zwar nicht gerade in einem der Problemfelder, in denen beschleunigte Lösungen wirklich dringlich wären, – wie etwa beim Pflege-, Bildungs-, oder Klimanotstand. Aber immerhin hat der Tempolimit-Notstand, wie einige an den hitzigen Diskussionen Beteiligte sagten, einen hohen Symbolwert.
Dass die Forderung nach einem generellen Tempolimit auf deutschen Autobahnen „bloße Symbolpolitik“ sei, sagen natürlich die Gegner eines Tempolimits, vornehmlich beheimatet in CDU/CSU und der FDP. Und verweisen darauf, dass es keine „Beweise“ dafür gebe, dass ein beschränktes Tempo klimafreundlicher und weniger unfallträchtig sei. Das Verlangen, diese Beweise beizubringen, äußern nun Versicherungswirtschaft und die Gewerkschaft der Polizei. Letztere ist übrigens für das Tempolimit – sie wird wohl wissen, warum.
Und deshalb macht die Frage, ob da wirklich noch Beweise nötig sind, sämtliche Nationen, die seit Jahren eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf ihren Autobahnen aus guten Gründen eingeführt haben, zu Idioten. Die wenigen Länder, in denen es kein Tempolimit gibt, heißen Nordkorea, Bhutan, Burundi, Somalia und Afghanistan.
Und überhaupt: Warum wird die Forderung nach einem Tempolimit hierzulande bloß als „Symbolpolitik“ abgetan? Darauf gibt es nur eine Antwort: Weil niemand ein Tempolimit wirklich will. Weil das Maß des gesunden Menschenverstandes in einer von Autolobbyisten dominierten Gesellschaft nichts gilt. Und deshalb auch immerhin ein Drittel der Deutschen strikt gegen ein Tempolimit ist. Die PS-Zahl bleibt der Götze einer Gesellschaft, in der das „Aufs-Gas-Treten“ als einziger Beschleunigungsmodus gilt.
Doch deutet sich eine märchenhafte Kehrtwende ausgerechnet von Seiten des Oberlobbyisten der Gasgeber an, vom Bundesverkehrsminister. In einem Interview sagte er tatsächlich, dass unsere Klimaziele nur erreicht werden können, wenn „Deutschland ein Fahrradland wird.“ Whow! Zwar mag man sich kaum vorstellen, dass das „einen Zahn zulegen“ der Fahrradfahrer zur Metapher für eine entschleunigte, aber immer noch mobile deutsche Gesellschaft werden könnte. Aber vielleicht zeitigt es ja doch allmählich Wirkung, dass die Industrie, allen voran der Autobauer Mercedes, ihre Spenden an die Politik drastisch reduziert hat.
WDR 3 Mosaik 31.Dezember 2019