Die Zahl der Eheschließungen ist im letzten Jahr auf ein Rekordhoch von fast 450.000 geklettert, – die höchste Zahl seit 1993. Die deutschen Standesbeamten sind also ziemlich gut ausgelastet. Warum aber fordern sie dann vom Bundesjustizministerium eine zusätzliche Kompetenz? Nämlich die, einvernehmliche Ehescheidungen auf dem „Expressweg“ vornehmen zu können? Also ohne Einschaltung von Anwälten und Gerichten – und mithin so billig wie in Spanien und Italien, wo ein solches Verfahren maximal 50 Euro kostet (und schon seit einiger Zeit gut funktioniert).
Tolstois berühmtester Roman, Anna Karenina, beginnt mit dem Satz: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“. Die Gründe für das Scheitern einer Ehe sind also äußerst vielfältig, könnte man diesen als Anna-Karenina-Prinzip bekannten Satz interpretieren. Seitdem Tolstoi ihn im Jahr 1878 schrieb, hat sich jedoch eine Menge verändert. Heute gibt es Frauenzeitschriften wie „Brigitte“ und Online-Beziehungsanbahnungsinstitutionen wie „Elite-Partner“. Die kommen mit modernen statistische Methoden den Gründen für Ehe-Zerwürfnisse immer genauer auf die Spur. Und können aus deren individuellen Vielfalt Durchschnittswerte ermitteln. Wiederholtes Fremdgehen ist der Hauptgrund. Dahinter folgen Unehrlichkeit und Geheimniskrämerei sowie sexuelle Unzufriedenheit und das Gefühl, unverstanden zu sein. Die Bild-Zeitung hat im Jahr 2011 einmal ausgerechnet, dass erwachsene Paare jährlich 2.455 mal über solche und verwandte Themen streiten, im statistischen Mittel also sieben Mal am Tag.
Aber muss man die Statistiken bemühen um festzustellen, dass keine Liebe ewig währt? Seit die bürgerliche Gesellschaft vor gerade einmal 200 Jahren die romantische Liebesvorstellung („auf ewig mein“) in den Ehevertrag eingesperrt hat, scheint dieses Wissen verloren gegangen. Entgegen jede lebensgeschichtliche Erfahrung verdonnert das Bürgerliche Gesetzbuch die beiden Partner dazu, sich auf immer zu lieben und bestellt niemand geringeres als den Tod zum Scheidungszeugen. Das Irre ist, dass die meisten Heiratswilligen immer noch daran zu glauben scheinen. Obwohl sie doch wissen müssten, dass hierzulande jede dritte Ehe geschieden wird und die durchschnittliche Dauer einer Ehe gerade mal 14 Jahre beträgt, entscheiden sie sich für die Ehe. Im letzten Jahr lag die Zahl der Eheschließungen auf einem Rekordhoch seit mehr als 25 Jahren.
Ein Anwalt, der immerhin schon 6.000 Scheidungen abgewickelt hat, sagt, dass Scheidungsgrund Nummer Eins die Heirat selbst sei. Genauer gesagt: die gar nicht mehr auf mehr Ewigkeit ausgerichtete Vorstellung von der Ehe. Zwar geben immer noch die meisten die Liebe als Grund für die Ehe an – und nicht etwa „Absicherung“ und „Steuerersparnis“. Darüber hinaus aber haben die Partner durchaus weniger romantische als ziemlich realistische Vorstellungen davon, was nach der Heirat aus der Ehe wird: „Wenn es nicht so läuft wie gedacht, beenden wir das Ganze eben wieder“.
Die „Ehe auf Probe“ ist also das Beziehungsmodell, was vielen heute eher vorschwebt als das, in dem „nur der Tod uns scheiden kann.“ – In Frankreich hat sich diese Vorstellung in den letzten zwanzig Jahren durchgesetzt und erfolgreich institutionalisiert. Der „pacte civile de solidarité“, PACS, ist eine Art Ehe light, ein Vertrag, der jederzeit kündbar ist und die Partner nur in den allerwichtigsten Hinsichten aneinander bindet. Ein Gang zum nächsten Standesbeamten reicht, um ihn wieder zu lösen. In manchen französischen Gemeinden übersteigt die Anzahl der PACS inzwischen die der formalen Ehen.
Die deutschen Standesbeamten haben da wohl den richtigen Riecher. Zur Ehe light passt am besten die Scheidung light. Das scheint aber nur in einem Land funktionieren zu können, in dem man der Liebe die Achtung zukommen lässt, die ihr gebührt.
WDR 3 Mosaik 18. November 2019