Die Strickjacke, die der Nirwana-Sänger Kurt Cobain bei seinem legendären „Unplugged“-Konzert 1993 beim Musiksender MTV trug, ist jetzt in New versteigert worden. Auf der gleichen Versteigerung kamen auch noch andere „Memorabilia“ unter den Hammer: Eine Harley Davidson Elvis Presleys oder eine Samtjacke Michael Jacksons. Den höchsten Preis mit 340.000 brachte aber wieder ein Erinnerungsstück an Kurt Cobain ein, – seine Fender-Mustang-Gitarre.
Als Pater Don Dario, der Pfarrer des mittelitalienischen Dorfs Calcata, am Neujahrstag 1983 den Reliquienschrein seiner Kirche öffnete, durchfuhr ihn ein furchtbarer Schreck: Die Reliquie, die seit mehr als 400 Jahre hier aufbewahrt wurde, war verschwunden. Die Prozession, der sie seit fast ebenso vielen Jahren vorangetragen worden war, musste ausfallen. Der alljährlich zum 1. Januar, dem Fest der „Beschneidung Jesu“ nach Calacata kommende Pilgerstrom, würde abreißen. Denn das Objekt der Verehrung war ganz offenbar gestohlen. Das „Sanctum Praepuitium Domini“. Die Heilige Vorhaut Jesu’. Der einzige physische Überrest, der logischerweise vom Erlöser auf Erden bleiben konnte. Denn bekanntlich fuhr der ja in ganzer Gestalt in den Himmel auf.
In vollständiger Gestalt wird es der 27-jährige Kurt Cobain kaum ins Jenseits geschafft haben, nachdem er sich im Jahr 1994 eine Schrotladung in den Kopf schoss. Doch schrieb er zuvor etwas in seinen Abschiedsbrief, das ihm auf immer Verehrung seiner Fans garantierte: „Es ist besser auszubrennen als zu verblassen.“ Dieser Spruch katapultierte ihn in eine moderne Form des Jenseits , nämlich in den berühmten „Forever 27 Club“, den Klub der Popmusiker, die wie Jimmi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison im Alter von 27 Jahren ihrem Leben ein Ende setzten. Der frühe und selbst herbeigeführte Tod verschaffte ihnen ein ewiges Leben, er machte aus ihnen Mythen.
Die Tatsache, dass die Welt „entzaubert“, der Magie und der Religion beraubt ist, wie Max Weber in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ 1917 sagte, bedeutet nicht, dass sie nun vollständig durchrationalisiert und durchintellektualisiert sei. Im Gegenteil. Der eine Mythos, die Religion, ist durch eine Vielzahl von Mythen ersetzt. Und einen nicht unbeträchtlichen Anteil an unserem mythischen Leben haben die von uns verehrten „Stars“. Dem Glauben an das eine ewige Leben folgte der Glaube an die Fortexistenz dieser Stars über ihren Tod hinaus. Davon zeugen die auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise täglich neu sich türmenden Blumengebinde auf den Gräbern Edith Piafs oder Yves Montands. Oder die Liebesbriefe, die auf dem Westwood-Memorial-Friedhof in Los Angeles durch die Mauerritzen von Marilyn Monroes Grab geschoben werden.
Der Grundgedanke der mittelalterlichen Reliquienverehrung war, dass die Gläubigen im Angesicht von deren Überresten den Heiligen nahekommen und damit selbst ein wenig heilig werden konnten. Weder von Jimmi Hendrix noch von Janis Joplin und auch nicht Kurt Cobain existieren irgendwelche Knöchelchen oder sonstige Überreste ihrer Körper, die, wie die Reliquien des Mittelalters, von ihrer Fortexistenz im Jenseits zeugen und uns ihnen gleichzeitig nahe bringen könnten. In der entzauberten Welt sind an die Stelle unscheinbarer Knöchelchen Dinge getreten, Alltagsgegenstände wie Jacken, Instrumente oder Autos, die im Leben und Wirken der verehrten Heiligen eine Rolle spielten. Je ferner das Leben der Heiligen der Popkultur, desto teurer werden diese Dinge.
Der Diebstahl der Vorhaut Jesu aus der Pfarrkirche von Calcata im Jahr 1983 ist übrigens nie aufgeklärt worden. Hartnäckig hält sich jedoch das Gerücht, der Vatikan selbst habe ihn in Auftrag gegeben. Um dem absonderlichen und unzeitgemäßen Reliquienkult endlich ein Ende zu bereiten. Es hat nichts genützt. Die fleckige und verschlissene Strickjacke Kurt Cobains brachte es auf der New Yorker Versteigerung auf immerhin 334.000 Dollar.
WDR 3 Mosaik 28.Oktober 2019