Nachdem der AfD-Gründer und Ökonomie-Professor Bernd Lucke jetzt schon zum zweiten Mal von protestierenden Studenten daran gehindert wurde, seine Vorlesung an der Hamburger Universität abzuhalten, schießt ein medialer Shitsturm auf die Protestierer. FDP-Chef Christian Lindner, der ebenfalls an einem Auftritt an der Hamburger Uni gehindert wurde, beklagt das Ende der Meinungsfreiheit. Der Philosoph Nida-Rümelin sieht die Freiheit der Wissenschaft gefährdet und gibt nachträglich Jürgen Habermas recht, der 1967 studentische Protestierer als „linke Faschisten“ beschimpfte.
Im Mai 1926 störten einige Dutzend rechtsradikaler Korpsstudenten an der Universität Hannover mit Gewalt die Vorlesung des jüdischen Philosophieprofessors Theodor Lessing. Der floh, die Meute hetzte ihm knüppelschwingend durch ganz Hannover hinterher, belagerte ihn selbst noch in einem Café, in dem er Zuflucht gesucht hatte. Ein paar Wochen später gab die Universitätsleitung dem rechtsradikalen Druck nach und „entband“ Lessing von seiner Lehrtätigkeit. 1933 wurde er im tschechischen Exil von SA-Mördern erschossen. – Soviel zu Nazi-Methoden. Und zu den Vorwürfen, bei den Vorgängen an der Hamburger Uni handelte es sich um solche. Wenn auch um einen „linken“ Faschismus.
Gleichwohl sind die „Proteste“ der Hamburger Studenten, die Bernd Lucke an seinen Vorlesungen hinderten, nicht hinnehmbare, ja verachtenswerte Akte gegen die Meinungsfreiheit und gegen die Freiheit der Forschung und Lehre. Allerdings ist Bernd Lucke als politische Person kein Opfer, sondern ein Täter, jemand, der den Rechtsradikalismus in Deutschland wieder hoffähig machte. Und der, auch wenn er jetzt nicht mehr daran erinnert werden will, Flüchtlinge als „Bodensatz“ bezeichnete und von einer „Entartung von Demokratie und Parlamentarismus“ schwadronierte. Zu einer Demokratie gehört allerdings auch, zwischen öffentlicher und Privatperson, zwischen Politiker und Wissenschaftler zu unterscheiden. Dass dies nicht geschah, dass pauschal eine Person verunglimpft wurde, ohne dass man eine Diskussion mit ihren politischen oder wissenschaftlichen Standpunkten suchte, ist das eigentlich Verwerfliche an den Hamburger Protesten.
Die sind gleichzeitig aber auch symptomatisch für das gesamte Niveau des politischen Diskurses in der Bundesrepublik: Nur die eigene Meinung und Befindlichkeit gilt. Alle anderen Positionen und Argumente sind von vornherein ausgeschlossen. Der Trick, denen überhaupt erst die Berechtigung abzusprechen, ist, sich als Opfer zu gerieren. – Als Opfer „des Systems“, als Opfer „der Eliten“ oder der „Lügenpresse“. Die Luckes, Petrys, Gaulands und Meuthens haben das vorgemacht und damit Erfolg gehabt. Als Opfer hast du immer Recht. Differenzierung ist nicht mehr möglich. Diskussion beendet.
Nach einem ähnlichen Muster funktioniert inzwischen auch der linke oder sich für links haltende Protest. Hier wird die eigene Sensibilität und „Betroffenheit“ zum Maßstab jeder Debatte. Fallen von der anderen Seite Argumente, die diese Betroffenheit in Frage stellen, fühlt man sich beleidigt und beendet das Gespräch. Treten an die Stelle von Argumenten Gefühle, ist der Diskurs begraben. So wird ein liberaler Juraprofessor, nur weil er eine Verteidigung von Harvey Weinstein in Erwägung zieht, von seinen Studenten rigoros von der Uni gemobbt. Einem Ökonomen wie Bernd Lucke der Mund verboten, weil man sich von seinem „Neoliberalismus“ beleidigt fühlt. Statt mit ihm darüber zu diskutieren, kann man ihn so als „faschistisch“ abtun – und die Person Bernd Lucke gleich mit.
Diese Unfähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten, – Grundvoraussetzung jeden Diskurses, bezeichnet die Philosophin Svenja Flaßpöhler als „moralischen Totalitarimus.“ Der wiederum gründet ihrer Auffassung nach in der fehlenden Distanz der Protestierer zu sich selbst, der Unfähigkeit, ihre eigene militante Intoleranz zu erkennen. Deshalb ist es zwar platt, aber vielleicht nicht ganz unwahr, in Richtung Hamburg ein „Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung“ zu rufen.
WDR 3 Resonanzen 24. Oktober 2019