„Scaling Fences“ – „Zäune erklimmen“ heißt der wohl gleichermaßen ironisch wie appellativ gemeinte Titel einer eben veröffentlichten UNO-Studie über afrikanische Migranten nach Europa. In einer aufwendigen Untersuchung befragten die Mitarbeiter des UN-Entwicklungsprogramms UNDP 3.000 illegal aus Afrika nach Europa eingewanderte, meist junge Menschen. Also keine Asylbewerber, Menschen die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind, sondern ganz „normale“ sog. Armutsflüchtlinge. . Die Antworten – und das Ergebnis der Studie – stellen vieles auf den Kopf, was wir bisher über solche „Armutsmigranten“ dachten.
„Ich wusste immer schon, dass ich was Besonderes bin und dass ich mein Potential nicht in Afrika verkümmern lassen wollte. Dort zu bleiben, hätte bedeutet, entweder jung zu heiraten oder jung schwanger zu werden. Beides hätte meine Träume zerschmettert.“ Die Auskunft der 26-jährigen Nigerianerin, die heute in Italien lebt, scheint zunächst einmal unsere Vorurteile zu bestätigen – die Vorurteile über die sogenannten „Armutsflüchtlinge“ aus Afrika: Sie nehmen die Gefahren der illegalen Reise auf sich, um einem elenden Schicksal in ihren Heimatländern zu entkommen. Doch was dieses Vorurteil stört, ist der selbstbewusste Ton der jungen Frau. „Ich wusste immer schon, dass ich was Besonderes bin.“
Tatsächlich fällt es schwer, den Menschen, die nach ihrer gefahrvollen Flucht bei uns ankommen, noch den Stolz und das Zukunftsvertrauen anzusehen, das sie aus ihrer Heimat trieb. Denn hier sind sie meist zu einem Dasein als Almosenempfänger oder Hilfsarbeiter verurteilt, die unter der Mindestlohngrenze schuften. Das wiederum resultiert aus dem geläufigen abfälligen Vorurteil: Zu uns kommen doch bloß die Armen und die Ungebildeten! – Migrationsforscher und sorgfältig recherchierende Journalisten wussten es schon lange besser. Und jetzt bestätigt die UNO-Studie: Das Gegenteil ist wahr. Die sogenannte „Armutsmigration“ ist ein Mythos. Gerade nicht die Armen und die Ungebildeten kommen aus Afrika zu uns nach Europa. Sondern diejenigen, denen es in ihren afrikanischen Heimatländern wirtschaftlich überdurchschnittlich gut geht und die überdurchschnittlich gut gebildet sind. Diejenigen, die sich über Europa gut informiert haben. Die die Gefahren der Reise abwägen konnten. Und die trotzdem den Mut aufbrachten, das Risiko einzugehen.
Paradoxerweise stellt sich also heraus, dass der Entwicklungsfortschritt auf dem afrikanischen Kontinent die Migration nicht etwa verringert, sondern verstärkt. Wirtschaft und Bildung dort gedeihen langsam. Nicht schnell genug, um alle daran teilnehmen zu lassen. Aber immerhin doch so, dass sich bei vielen der Horizont übers eigene Land hinaus erweitert und persönlicher Ehrgeiz geweckt wird. Die UNO-Studie eröffnet nicht nur einen überraschenden Blick auf die komplexen Ursachen und Hintergründe der Migrationsbewegungen. Dadurch, dass sie auch die Herkunft und die Motive der afrikanischen Migranten durchleuchtet, sie ganz neu wahrnehmen lässt, wirft sie auch die Frage auf, wie man sie hierzulande empfangen soll. Nämlich nicht als armselige Bittsteller, denen man gnädigerweise unterbezahlte Jobs als Obstpflücker, Putz- und Haushaltshilfen zumutet. Sondern als Hoffnungsträger. Zum einen als wertvolle Arbeitskräfte und Mitglieder unserer Gesellschaften. Zum anderen auch als die Zukunft ihrer Herkunftsländer.
„Europa ist nicht das, was ich erwartet habe“, gibt Aliou, ein junger Mann aus Guinea zu Protokoll. „Zu viel sozialer Stress. Trotzdem bietet es Möglichkeiten. Ich hab gerade mein Sprachtraining abgeschlossen, spreche jetzt Spanisch und will politische Wissenschaften studieren. Mein Ziel ist, nach Hause zurückzukehren und mich da an der Entwicklung beteiligen. Damit andere junge Leute nicht ihr Leben für eine Reise nach Europa riskieren müssen.“
WDR 3 Mosaik 22.Oktober 2019