Als das Volk von Paris 1789 laut protestierend vor die königliche Residenz nach Versailles zog, fragte die Königin erstaunt, was die Leute denn wollten. Brot, sagte man ihr. Ihre Antwort – „Dann sollen sie doch Kuchen essen“ – ist bekannt. Die nett erfundene Geschichte illustriert aufs Schönste die beiden Hauptgründe für das Entstehen von Revolutionen: Die soziale Not des Volkes und den Zynismus der dieses Volk beherrschenden, es in Unfreiheit haltenden Eliten.
Zwar kann in Deutschland von krasser sozialer Ungleichheit, nicht aber von einer wirklichen, zum Aufruhr anstachelnden sozialen Not die Rede sein. Ebenso wenig davon, dass das Volk von den Eliten unterdrückt und in Unfreiheit gehalten würde. Von deren Zynismus angesichts der bevorstehenden Klimakatastrophe allerdings muss man unbedingt sprechen. Das sogenannte Klimapaket der Bundesregierung ist ein solcher Zynismus. Eine in seichten Versprechungen verpackte Kapitulation vor den klimakillenden Industrien. Ein anderer Zynismus ist die onkelhafte Vereinnahmung der Fridays-for-Future-Bewegung. Das allseitige betroffene „Wir-haben-verstanden“-Nicken blieb bisher folgenlos. Vielmehr macht VW – ausgerechnet VW! – mit dem Spruch „Endlich können wir die Kinder zur Klimademo fahren“ Reklame für ein neues Car-Sharing-Angebot.
Höchste Zeit also, dass wirklich Zunder in die bisher von Kindern angeführte Klima-Bewegung kommt und die Regierungen für ihr Hinhalten und Hinauszögern zur Verantwortung gezogen werden. Für beides steht die sich hinter dem Namen „Extinction Rebellion“ versammelnde Bewegung. Dieser „Aufstand gegen das Aussterben“ verspricht sich nichts mehr vom Herumtragen von Plakaten auf Demonstrationen und von Wutreden. Nur eine erhebliche und effiziente Störung der „öffentlichen Ordnung“ könne die Aufmerksamkeit herstellen, die für das Erreichen von echten Klimazielen nötig ist. Zum Beispiel die Blockade des gesamten Verkehrs in den Städten, was für nächsten Montag in Berlin vorgesehen ist.
So doll wird es nicht kommen. Die bisherigen Aktionen von „Extinction Rebellion“ in Hamburg, Berlin und Köln waren ausgesprochen friedfertig, setzten nicht auf Konfrontation, sondern orientierten sich an Vorbildern des „zivilen Ungehorsams“. Man will sich nicht prügeln, allenfalls verhaften und wegtragen lassen. Trotzdem scheint nun eine radikalere Protestform gegen die Klimazerstörer auf dem Weg zu sein. Dahinter steckt jedenfalls eine Bewegung mit klar definierten Zielen – etwa dem, dass Deutschland nicht irgendwann einmal sondern schon 2025 klimaneutral werden soll. Und eine Bewegung, die sich über die eigentliche Ursache der Klimakatastrophe – das grenzenlose kapitalistische Wirtschaftswachstum – vollkommen im Klaren ist. Insofern hat Friedrich Merz wohl den richtigen Riecher, wenn er solchen Umweltschützern den Willen zur „Überwindung des Systems“ unterstellt.
Aber auch wenn hinter den sich anbahnenden radikalen Klima-Protesten tatsächlich ein solcher Wille zur Systemüberwindung steht: Für eine wirkliche Revolution braucht es mehr. – Blickt man aber zurück auf das eher klanglose Versickern von „Occupy Wall Street“, scheint in den Klimaprotesten eine größere Kraft zu stecken: Ihnen geht es ums Überleben, um die Existenz, um Alles also. Und wenn es um Alles geht, kann’s am Ende vielleicht doch auch ums „System“ gehen.
WDR 3 Resonanzen 4. Oktober 2019