Frederick Taylor, Der Krieg, den keiner wollte. Briten und Deutsche: Eine andere Geschichte des Jahres 1939. Siedler-Verlag. 432 Seiten. 30 Euro
Am 26. September 1938 verkündet Hitler im Berliner Sportpalast, dass die Würfel gefallen seien. Erfülle die Tschechoslowakei nicht bis zum 1. Oktober seine Forderungen, werde er dort einmarschieren. Um den Ernst seiner Drohung zu unterstreichen, hält er am darauffolgenden Tag in Berlin eine Militärparade ab. Endlos rollen Panzer unter der Reichskanzlei vorbei. Hitler tritt auf den Balkon und mustert die Menschenmenge unter sich. Niemand jubelt ihm zu. Nach ein paar Augenblicken macht er auf dem Absatz kehrt, marschiert zurück zu seinen Ministern und Generälen und schnauzt den Propagandaminister an: „Mit einem solchen Volk kann ich noch keinen Krieg führen!“
Interessant die Stimmung der Menschen in Berlin. Rechnen wir die fanatisierten Massen ab, die gestern den Sportpalast füllten, so sieht man überall nur vermieste Gesichter. Keiner will den Krieg. Es geht doch allen so gut! Wir verdienen so gut. Man hat ein Auto, einen Kühlschrank, eine Musiktruhe – wozu also noch Krieg? Der „Führer“ hat es ja bisher immer ohne Krieg geschafft. Er wird es auch diesmal schaffen…
…schreibt der damals 38-jährige Drehbuchautor Erich Ebermayer Ende September in sein Tagebuch. – Ein paar Monate später, am 2. Januar 1939, lautet die Überschrift einer Kolumne in der meist verkauften britischen Zeitung „Daily Express“: „Weshalb Sie 1939 gut schlafen können.“
Freuen Sie sich auf ein Jahr, in dem die Bollwerke gegen einen allgemeinen Krieg an Stärke zunehmen. Bedenken Sie, dass ein Krieg für kleine Staaten heute schon zu kostspielig ist und auch für große Mächte immer weniger möglich wird. Die Zerstörung ist zu groß. Und die Völker wissen es. Glauben Sie an den Frieden.
Hunderte solcher Zeugnisse – Tagebucheinträge, Zeitungsartikel, private Umfragen wie staatliche Spitzelberichte – hat der britische Historiker Frederick Taylor zusammengetragen, um seine These zu untermauern: In dem Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg begann, wollte die Mehrheit der Bevölkerung weder in Deutschland noch auf den britischen Inseln einen Krieg. Viele Anzeichen deuteten zwar darauf hin, dass Nazi-Deutschland immer aggressiver wurde: Es marschierte in die Tschechoslowakei ein und stieß gegen Polen massive Drohungen aus. Doch in Deutschland glaubten die Leute der Friedenspropaganda der Nazis. Und in Großbritannien wollten die Leute einfach nicht daran glauben, dass es zum Krieg kommen würde.
Vergessen Sie Hitler. Nehmen Sie Urlaub und buchen Sie hier…
… hieß es auf einem Plakat vor einem Londoner Reisebüro im Sommer 1939. Und der „Daily Mirror“ beschwichtigte noch am 5. August seine Leser:
Ungeachtet dessen, dass Sie ein Jahr voll abscheulicher Sorgen hinter sich haben, lassen Sie sich in einer Zeit, in der immer noch Frieden herrscht, ins Glück evakuieren. Damit soll nicht gesagt werden, dass wir in irgendeiner Weise mit der Weltlage zufrieden sind, aber die Vernunft gebietet einfach, dass wir im Sinne unserer körperlichen und geistigen Spannkraft dann und wann Ferien machen.
Der außergewöhnlich warme Sommer 1939 stimulierte Urlaubsphantasien und damit verbunden: Friedenshoffnungen. Die Menschen in beiden Staaten wollen sich den Sommer nicht durch Katastrophen-Szenarien vermiesen lassen. Das englische Seebad Blackpool verzeichnet den erfolgreichsten Umsatz-Sommer seit dem Ersten Weltkrieg. In Deutschland kommen 1939 140.000 „Volksgenossen“ in den Genuss einer KdF – „Kraft-durch-Freude“-Seereise, – neben Millionen, die an subventionierten Inlandsreisen teilnehmen. – Doch je weiter der Sommer fortschreitet, desto mehr häufen sich die Anzeichen für einen bevorstehenden Krieg. Immer aggressiver heizt die Nazi-Diktatur mit Kriegspropaganda die Stimmung an. – Auch das demokratische England verstärkt seine Aufrüstung, doch hier versucht die Politik auf vorsichtige und pragmatische Weise, die Menschen auf das Bevorstehende vorzubereiten. Entsprechend gelassen bleiben sie.
Es war wunderbar, einen Luftschutzraum zu haben. Man grub ein großes Loch, und da kam diese Form aus Blech hinein, und dann gab es eine halbhohe Betonverkleidung. – Wir strichen ihn rosa, weil das angeblich beruhigend war.
Im August schien der Krieg unvermeidlich. Jeder, der ein bisschen politischen Verstand hatte, wusste, dass der am 23. August geschlossene Hitler-Stalin-Pakt der Auftakt dazu war. – In diesen Tagen sind in Bielefeld Gestapo-Spitzel unterwegs, um der ungefilterten Stimmung in der Bevölkerung auf die Spur zu kommen.
Das hervorstechendste Merkmal der allgemeinen Volksstimmung scheint die Furcht vor einem Krieg zu sein, die sich häufig hinter der Beteuerung verbirgt, man glaube nicht, dass es zum Krieg kommen werde. Aber man redet sich das nur vor, weil man es hofft. In Wirklichkeit rechnen alle mit dem Krieg, dem man – abgesehen von den jüngeren Leuten – keinerlei Sympathie entgegenbringt.
Frederick Taylor folgt in seinem Buch zwar dem Trend der jüngeren Historiker-Generationen, Geschichte nicht vom Ende her, sondern aus der zukunftsoffenen Perspektive der Zeitgenossen zu schreiben. Doch wird seine Darstellung dadurch nicht zu einem Mosaik beliebig zusammengetragener Ansichten. Er behält das Ende und die dorthin führenden politischen Entwicklungen immer genau im Blick. Dieser Zusammenklang von Anschaulichkeit und ernsthafter Analyse macht sein Buch zu einer überaus lesenswerten Rarität auf dem Geschichtsbüchermarkt.
WDR 3 Mosaik, 20. September 2019