Alexander Pechmann, Die Nebelkrähe. Roman. Steidl-Verlag 2019. 176 Seiten. 18 Euro
Eine der lustigsten Geschichten, die Oscar Wilde geschrieben hat, ist das „Gespenst von Canterville“. Darin zieht die moderne amerikanische Familie Otis in ein englisches Schloss, in dem ein Gespenst umgehen soll. Als ihnen das Gespenst dann wirklich erscheint, reagieren die Otis völlig unbeeindruckt und äußerst pragmatisch. Da ihn das Rasseln seiner Ketten stört, rät der Familienvater dem Gespenst, sie mit Aurora-Schmieröl einzufetten. Und als es sich beim Anlegen seiner Rüstung verletzt, kuriert Mrs. Otis es mit ihrem Allheilmittel. Am Ende gelingt es der ältesten Tochter gar, es zu erlösen. – Oscar Wilde selbst aber scheint unerlöst geblieben zu sein. Mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tod taucht sein Geist jedenfalls bei den Séancen der „Society for Psychical Research“ auf und überrascht die Teilnehmer mit der Erkenntnis, dass tot zu sein das Langweiligste ist, was man sich vorstellen kann – abgesehen von einem Abendessen mit einem Schuldirektor.
Die Geschichte, die Alexander Pechmann über Oscar Wildes posthumes Fortleben in Londoner Spiritistenkreisen erzählt, beruht auf Tatsachen. Und zwar einerseits auf den Protokollen, die die Spiritistin Hester Dowden 1924 über die „Erscheinungen“ Oscar Wildes auf ihren Séancen veröffentlichte. Andererseits auf den mehr oder weniger verbürgten Umtrieben von Wildes quirliger, Kokain-schnupfender Nichte Dolly, die als Widergängerin ihres Onkels die Partys der Londoner Gesellschaft amüsierte. Pechmann hat aus diesen historischen Ingredienzien eine klassische Gespenstergeschichte gemischt. Sie beginnt, ganz Genre-typisch, mit einer Erscheinung, die sich der Held und Ich-Erzähler, der Mathematiker Peter Vane, rational nicht erklären kann.
„Lily?“ wisperte eine unbekannte Stimme nahe an meinem Ohr. So nah, dass ich den Atem des Sprechers hätte spüren müssen. „Lily. Lily.“ Aufgeschreckt aus dem Schlaf, schlug ich blindlings um mich. Meine geballte Faust traf die Wand neben meinem schmalen Bett. Keuchend sank ich zurück auf das Kissen. – Diese Kinderstimme: Sie hatte so fremd geklungen. Ich konnte sie nicht einordnen. Sie hatte nichts zu tun mit den üblichen Wachträumen, mit den Empfindungen und Visionen, die immer wieder aus der Tiefe meines Bewusstseins auftauchen.
Der Erzähler ist ein Veteran des 1. Weltkrieges. Seine „Lily“-Erscheinung führt er auf ein Erlebnis in den Schützengräben Flanderns zurück. Kurz nachdem Finley, sein bester Kamerad verwundet und in einem Krankenwagen abtransportiert wurde, übergab er ihm das Bild eines vierjährigen Mädchens mit dem Wunsch, es möge ihm Glück bringen. Jetzt, in London, bringt Peter Vane das mysteriöse Auftauchen Lilys mit diesem Bild in Zusammenhang und macht sich, im Glauben es handle sich um die Tochter seines Kameraden, auf die Suche nach ihr. Vergeblich. Da ihm nun auch noch der Geist Finleys erscheint, glaubt er, er litte wie viele andere Weltkriegssoldaten auch, an posttraumatischen Halluzinationen. Doch ein befreundeter Physiker, dessen Glaube an die rationale Erklärbarkeit der Welt durch die Beschäftigung mit der Quantenmechanik ins Wanken kam, nimmt ihn zu einer der Séancen Hester Dowdens mit.
Womöglich ist der Spiritismus ein weiblicher Gegenentwurf zu den männlich dominierten Naturwissenschaften. Mich reizt der Gedanke, dass ein paar eloquente Damen mit mystischem Geraune unser auf Zahlen und Fakten basierendes Weltbild zum Einsturz bringen.
Doch erstaunlicherweise tritt Vane bei der Séance, während der das Bild des Mädchens auf dem Tisch liegt, nicht mit Lily, sondern mit Oscar Wilde bzw. dessen Geist in Kontakt. – Anschließend braucht er eine ganze Weile, das heißt den Rest des Romans, bis er einigermaßen plausible und rationale Erklärungen für all diese unwirklichen Phänomene zusammen hat: Hester Dowden wird mit Hilfe von Dolly Wilde, in die sich Vane natürlich verliebt, als Schwindlerin entlarvt und das Bild des Mädchens erweist sich als ein Porträt des 4-jährigen Oscar Wilde, der es als Kind liebte, Mädchenkleider anzuziehen.
Alexander Pechmann erzählt eine amüsante Geschichte voller Überraschungen und Bezüge zum irischen Schriftsteller und seiner Familie. Auch seine Entscheidung, sie in die Form einer Gespenstergeschichte zu packen, liegt bei dem ihm zur Verfügung stehenden historischen Material nahe. Doch stellt sich der Leser am Ende die Frage nach der literarischen Relevanz dieser mit betulichem Ernst und völlig ironiefrei geschriebenen Geschichte. Das Genre der klassischen Gespenstergeschichte hat ausgedient. Wilde selbst benutzte es bereits Ende des 19. Jahrhunderts im „Gespenst von Canterville“ nur, um es zu persiflieren. Historische Stoffe zu erzählen, ist kein Verbrechen. Doch wünschte man sich – schließlich leben wir in der Postmoderne – einen reflektierteren, spielerischeren Umgang mit den Formen, in denen das geschieht.
WDR 3 Mosaik 15. Juli 2019