Die Redewendung „zwei Juden, drei Meinungen“ mag von manchen Menschen in antisemitischer Absicht verwendet werden. Sie charakterisiert allerdings nichts weiter als die talmudische Denktradition, wonach die Thora nicht als einmalige, wörtlich auszulegende Offenbarung, sondern als ein göttlich inspirierter Prozess zu verstehen ist. Die Wahrheit ihres Textes hängt davon ab, wie und unter welchen Umständen er jeweils interpretiert wird. Und da können durchaus mehrere Meinungen entstehen.
Ähnlich verhielt es sich von Anfang an auch mit dem Jüdischen Museum in Berlin. Was soll es eigentlich sein? Ein Museum der deutschen Juden und ihrer Religion und Geschichte? Oder ein deutsches Nationalmuseum zur Geschichte des europäischen Judentums? Letzteres ist es jedenfalls seinem eigenen Selbstverständnis nach. Doch weckt diese Konzeption, so der Historiker Michael Wolffsohn, völlig entgegengesetzte Erwartungshaltungen in Bezug auf das, was hier das spezifisch Jüdische sein soll. Bietet also Konfliktstoff.
Der Konflikt eskalierte vor zwei Wochen im Rücktritt des Museumsdirektors Peter Schäfer, einem renommierten Judaisten. Ihm war – absurderweise – vorgeworfen worden, er setze sich nicht hinreichend für die jüdische Sache und gegen Antisemitismus ein. Dieser Rücktritt wurde von der zuständigen Kulturstaatministerin und vom Stiftungsrat des Museums zwar mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Zu seiner Verteidigung konnte man sich allerdings nicht entschließen. Das haben jetzt die beiden Kulturwissenschaftler und Friedenspreisträger Aleida und Jan Assmann nachgeholt.
Und dabei den Kern des Konfliktfeldes um das Jüdische Museum freigelegt: Wer darf in Deutschland darüber bestimmen, was Judentum und was Antisemitismus ist? Der Staat Israel in Person seines Ministerpräsidenten? Oder der Israel-freundliche Zentralrat der Juden in Deutschland? Beide haben die Denunziation Schäfers betrieben und verfolgen, so die Argumentation der Assmanns, eine gezielte Hexenjagd: Wer es wagt, die Politik Israel zu kritisieren, gilt als Antisemit. Das Gespenst des Antisemitismus-Vorwurfs gehe um in Europa und stelle im Stile der McCarthy-Ära jede Israel-Kritik unter Generalverdacht.
Kulturstaatministerin Monika Grütters hat inzwischen – ein wenig spät allerdings – betont, die Autonomie des Museums sei ein hohes Gut. Es müsse vor Unterstellungen und Vereinnahmungen geschützt werden. In der Tat. Doch wie das in Zukunft durch eine Neukonzeption des Museums gewährleistet werden soll, sollte nicht allein in der Macht des Stiftungsrates stehen, sondern Ergebnis einer breiten öffentlichen Diskussion sein.
Ob die aber jemals zu einer eindeutigen Meinungsfindung kommen wird, steht in den Sternen. Denn schließlich gehört zu den Eigenarten des Judentums, dass es eine eindeutige Festlegung dessen, was jüdisch ist ebenso wenig gibt und nie geben wird wie eine Einigkeit über die richtige Auslegung religiöser Regeln. Gerade in seiner Vielfältigkeit liegt der Charme des Judentums. 14 verschiedene liberale deutsche jüdische Gemeinden liegen im Dauerclinch mit den Orthodoxen. Allein in Berlin gibt es sechs Synagogen mit unterschiedlichen liturgischen Praktiken. Nach wie vor gilt: Wo es zwei Juden gibt, gibt es drei Meinungen. Und da soll es ein jüdisches Museum geben?
WDR 3 Resonanzen 24.06.2019