Eric Vuillard: 14. Juli. Aus dem Französischen von Nicola Denis.Matthes & Seitz 2019, 131 Seiten, 18 Euro
„In der Nacht vom 13. zum 14. Juli, die, glaube ich, die Nacht der Nächte ist, die Heilige Nacht, die furchtbarste Weihnachtsnacht, das Ereignis, verschafft sich, bewaffnet mit Gewehren, Spießen und Speeren, das sogenannte Gesindel – kurzum: die Ärmsten, von der Geschichte bisher einfach in der Gosse gelassen – Zugang zu den Häusern, lässt sich zu essen und zu trinken auftischen. Mit Barmherzigkeit ist es künftig nicht mehr getan.“
Es ist die Nacht vor dem Sturm auf die Bastille, dem eigentlichen, dem symbolischen Beginn der Großen französischen Revolution. Die Geschichte dieses Sturms ist hundertfach erzählt, alle wichtigen Akteure, die einzelnen Ereignisse und die Folgen sind bekannt. Warum erzählt Eric Vuillard sie noch einmal? Zum einen, weil er es sich als Schriftsteller nun einmal zur Aufgabe gemacht hat, große Momente der Geschichte neu zu erzählen. Zum anderen aber, weil er glaubt, dass die Historiker, die bisher die Geschichte der Französischen Revolution geschrieben haben, dabei mit einem Taschenspielertrick verfahren: Sie tun so, als sei es die Geschichte einiger weniger großen Akteure, der Wortführer, der Abgesandten, der Repräsentanten der „gewaltigen schwarzen Masse“. Vuillard dagegen macht eben diese „schwarze Masse“, das hungrige, wütende, aufständische Volk selbst zum Helden seiner Erzählung und damit auch zum eigentlichen Akteur der Geschichte.
Das Volk als „Subjekt der Geschichte“ war bisher kaum mehr als eine abstrakte marxistische Konstruktion. Vuillard haucht ihr Leben ein. Und was für ein Leben! Seine pointilistisch-anekdotenhafte Erzählweise versucht jedem und jeder Einzelnen in dieser großen Masse von fast 200.000 Menschen, die sich am 14. Juli über die Rue Saint-Antoine auf die vieltürmige Festung Bastille zu bewegt, gerecht zu werden. Er nennt Namen. Hunderte Namen. Seine Miniaturen erzählen die Geschichten, die Schicksale, die Sehnsüchte und Hoffnungen hinter diesen Namen. Wie die des kleinen Weinhändlers Cholat, der auch auf dem Weg zur Bastille ist, dabei angelernte Weisheiten Jean-Jaques Rousseaus trällernd, die er hinter seinem Tresen aufgeschnappt hat.
„Bis zu diesem Tag hatte er Getränke serviert, mit seinem Wein gehandelt und Calvados ausgeschenkt, das entsprach ihm in etwa, und trotzdem träumte er von etwas anderem, er glaubte, das Leben könnte anders sein, besser. In seiner Wirtssprache sagte er sich, dass wir, meiner Treu, doch alle gleich seien, dass es ungerecht sei, wenn manche ihr Leben lang schuften müssten, während sich andere bedienen ließen.“
Die literarische Technik, mit der es Vuillard gelingt, die Geschichte der Revolution auf ebenso überraschende wie überzeugende Weise neu zu erzählen, hat er, der ja auch Filmemacher ist, vom Film übernommen. Sie besteht aus dem ständigen Wechsel zwischen Totalen und Zooms. In den Totalen erlebt die Leser den Sturm der Masse auf die Bastille, sieht das Gewehrfeuer der Verteidiger, sieht die Verwundeten und Sterbenden, sieht, wie die Brücken gesprengt und die Festung schließlich erobert wird. In den immer wieder eingestreuten Zooms bringt Vuillard uns die einzelnen Akteure und das nahe, was in ihnen in diesem Augenblick vorgeht, was sie antreibt, nach vorne zu stürmen und für ihre Hoffnungen ihr Leben zu lassen. – Natürlich ist sich Vuillard bewusst, dass er kein Historiker ist, sondern das Leben dieser kleinen Leute bloß erfindet. Aber das ist ja gerade der Sinn der Literatur: Die Wahrheit zu erfinden.
WDR 5 Bücher, 22.Juni 2019