Heike B. Görtemaker: Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach. Verlag C.H. Beck, München 2019. 528 Seiten, 28 Euro.
Was gibt es zur Person Adolf Hitlers noch zu sagen, was nicht schon gesagt oder geschrieben wurde? Dutzende Biografien versuchen der Person des Diktators nahe zu kommen und deren Einfluss auf die Geschichte des „Dritten Reiches“ zu durchleuchten. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie Hitler als einen einsamen und unnahbaren Mann beschreiben, als einen anfangs Entwurzelten, dann, nach der „Machtergreifung“ als eine neurotische, beziehungsunfähige Person ohne nennenswertes Privatleben. Zwar habe er Helfer gehabt. Doch letztlich sei es ihm ganz allein gelungen, alle Kräfte auf seine Ziele auszurichten. – Nun rückt die Historikerin Heike B.Görtemaker diese tradierte Sicht erheblich zurecht. Auf den Punkt gebracht lautet die mit neuem Quellenmaterial aus Privatarchiven untermauerte These ihrer Monografie: Ohne sein unmittelbares soziales Umfeld und seine persönlichen, quasi familiären Beziehungen hätte Hitler weder seinen Aufstieg geschafft noch später, als Diktator, sich an der Macht halten können.
„Niemals ging Hitler alleine aus. Immer musste ihn jemand begleiten. Politisches und privates Leben waren dabei untrennbar miteinander verbunden, wie die umfangreiche Korrespondenz von Rudolf Heß aus den 1920er Jahren zeigt, die einen seltenen Einblick in den persönlichen Umgang Hitlers gewährt und das gängige Bild vom charismatischen Führer und seiner blind gehorchenden Gefolgschaft fragwürdig erscheinen lässt.“
Heike B. Görtemaker unterscheidet mehrere zeitlich aufeinander folgende „innere Kreise“ von Gönnern, Freunden und Bediensteten, die Hitler umgaben und die nicht nur seine Politik unterstützten, sondern ihm auch persönlichen Rückhalt gaben. Ihre Zusammensetzung wechselte im Laufe der Jahre ebenso wie ihre Funktion. In der „Kampfzeit“ der nationalsozialistischen Bewegung waren es Reichswehrsoldaten wie Ernst Röhm, der Uhrmacher Emil Maurice oder der Pferdehändler Christian Weber, die immer in Hitlers Nähe waren und in den „Saalschlachten“ für seinen persönlichen Schutz sorgten. Zu seiner unmittelbaren Umgebung gehörten aber auch Intellektuelle wie der Student Rudolf Heß, der Schriftsteller Dietrich Eckart und dessen Mitarbeiter Alfred Rosenberg, der von Beginn der 20er Jahre an mit seinen antisemitischen Schriften das ideologische Fundament der NSDAP formte. Der großbürgerliche Eckart ebnete Hitler schließlich den Weg zu einem weiteren Kreis, dem der finanzstarken und einflussreichen Mäzene und Gönner – darunter Siegfried und Winifred Wagner, die Hitlers aufwendigen Lebensstil finanzierten und ihn zu einem einflussreichen Politiker der Weimarer Republik machten.
„Über seine Mäzene hinaus blieb Hitler aber auch auf ein Umfeld angewiesen, das ihn in seinem täglichen Leben betreute und verlässliche Mitarbeiter für ihn rekrutierte. Zwar wurde er „Führer“ genannt. Doch in Wirklichkeit war er abhängig von seinen Freunden, die diese Bezeichnung erst für ihn erfunden hatten und von ihm erwarteten, dass er dem gemeinsamen Traum von einem „neuen Reich“ zum Durchbruch verhalf.“
Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler änderte sich mit der Zusammensetzung des ihn umgebenden „inneren Kreises“ auch dessen Funktion. Der Diktator verlagerte sein komplettes Privatleben in das abgeriegelte Refugium des „Berghofes“ auf dem Obersalzberg und ging auf Distanz zu den anderen Führern des „Dritten Reiches“. Dafür intensivierten sich seine Kontakte zu denen, die mit ihm im „Berghof“ lebten: Aus der Anfangszeit der „Bewegung“ waren noch sein Fotograf Heinrich Hoffmann und sein Pressechef Otto Dietrich übrig geblieben. Hinzu kamen nun neben Albert Speer und Martin Bormann die Ärzte Karl Brandt und Theodor Morell, der Militär-Adjutant Nicolaus von Below und deren Familien sowie seine Freundin Eva Braun. Heike B. Görtemaker beschreibt diese etwa 20 Personen umfassende Gruppe entgegen der bisher gängigen Auffassung nicht als eine Versammlung serviler, stummer Requisiten, die dem „Führer“ ergeben bei seinen „Kamingesprächen“ lauschte. Vielmehr handelte es sich um eine Gemeinschaft mit wichtigen sozialen und politischen Funktionen.
„Die „Ersatzfamilie“ bot Hitler Rückhalt, diente seiner Selbstvergewisserung und war vielfältig einsetzbar. Ihre Mitglieder müssen daher zumindest als Mitwisser verstanden werden, einige auch als Mittäter. Zudem führten alle in diesem „Hofstaat“ ein privilegiertes Dasein, erhielten teure Geschenke oder Sondervollmachten wie Speer und Brandt.“
Das Buch Heike B. Görtemakers erschöpft sich keineswegs in der Schlüssellochperspektive auf das Privatleben des Diktators, der sich mit der Aura umgab, er habe kein Privatleben. Es ist vielmehr ein wichtiger Beitrag zur weiteren Entmystifizierung der Person Hitlers. Darüber hinaus bietet es auch eine Erklärung dafür, warum sich die Mythen um ihn so lange halten konnten. Wesentlich dazu bei trugen nämlich eben die Mitglieder dieses „inneren Kreises“ um Hitler, die nach seinem Tod und weit über das Ende des „Dritten Reiches“ überzeugte Nationalsozialisten blieben. Sie hielten engen Kontakt zueinander und boten sich als „Zeitzeugen“ an, um, wie das Beispiel Albert Speer zeigt, sich selbst als Unwissende darzustellen und damit weiter am Märchen vom genialisch einsamen „Führer“ zu stricken.
WDR 3 Mosaik 10.Mai 2019