Der Grüne Bundestagabgeordnete Sven-Christian Kindler hat an die Bundesregierung eine Anfrage nach der Zahl von Enteignungsverfahren gegen Grundstücks- Haus- und Wohnungsbesitzer im Zuge von Straßenbauunternehmungen gestellt. Heute liegt die Antwort des Bundesverkehrministeriums vor: Insgesamt sind derzeit 65 Enteignungsverfahren anhängig. 35 davon betreffen den Bau von Bundesautobahnen, 30 den von Bundesstraßen.
„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ Dieser Satz stammt nicht von irgendeinem tiefroten Sozialwissenschaftler, sondern steht in einem Parteiprogramm der CDU. In der Konsequenz dieser Feststellung fordern die Christdemokraten die Vergesellschaftung der Großindustrie, insbesondere die Enteignung der „eisenschaffenden Großindustrie.“ – Das Parteiprogramm – das sogenannte „Ahlener Programm“ – stammt zwar vom 3. Februar 1947. Es atmet allerdings den gleichen Geist, der zwei Jahre später das Grundgesetz durchwehte. Der wiederum schlug sich in dessen Artikeln 14 und 15 nieder. In beiden ist die Möglichkeit der Enteignung von „Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln“ „zum Wohle der Allgemeinheit“ als zulässig erklärt.
Als Voraussetzung dafür nennt der Grundgesetzartikel 14 die Existenz von Gesetzen, die „Art und Ausmaß der Entschädigung“ regeln. Mit Blick auf die jüngste Enteignungsdebatte erstaunt, dass es in der Tat eine ganze Reihe solcher, Enteignungen ermöglichender Gesetze gibt. Der Staat selbst nutzt sie allenthalben mit fröhlicher Unbekümmertheit, wie die Antwort des Bundesverkehrministeriums auf die Anfrage des Abgeordneten Kindler zeigt. Wobei die Frage, ob der hemmungslose Straßen- und Autobahnausbau tatsächlich dem „Wohle der Allgemeinheit“ dient, auf einem anderen Blatt steht.
Mehrere Paragrafen im Baugesetzbuch im Städtebaurecht regeln die Enteignung von Grundstücken durch die Kommune, wenn das „Wohl der Allgemeinheit sie erfordert und der Enteignungszweck auf andere zumutbare Weise nicht erreicht werden kann.“ Mit dem Instrument der „städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme“ will zum Beispiel die Stadt Gütersloh gezielt Wohnbauflächen erwerben, um preisgebunden Wohnraum zu schaffen. Ähnliches plant die Berliner Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher. Und der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer droht durch Anwendung ähnlicher Gesetze Grundbesitzern, die ihre Grundtücke nicht bebauen, mit Enteignung und Zwangsverkauf an die Stadt.
Das vermeintlich sozialistische Schreckgespenst der Enteignung gehört also nicht nur zur Grundsubstanz des Gemeinwohlgedankens im Grundgesetz. Es hockt auch ganz tief im Bürgerlichen Gesetzbuch. Das ist zwar ganz dem Privateigentum verpflichtet, dessen hemmungslosem Missbrauch schiebt es jedoch eine Reihe wirksamer Riegel vor. Man muss sie nur entdecken und anzuwenden wissen. Insofern trägt die so hysterisch begonnene Debatte um die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne allmählich rationale Früchte. Und die erinnern an die oft vergessene Weisheit, dass wenn der Kapitalismus alle seine Versprechen einlöste, er kein Kapitalismus mehr wäre, sondern ein Sozialismus.
WDR 3 Resonanzen 2. Mai 2019