Madeleine ist zu beneiden. Nach dem Tod ihres Vaters, des berühmten Bankiers Marcel Péricourt, ist sie die Alleinerbin seiner Bank und seines riesigen Vermögens. Sie gehört zur absoluten Hautevolee im Paris Ende der zwanziger Jahre. Doch schon bald treffen sie verheerende Schicksalsschläge. Noch während der Trauerfeier stürzt sich ihr zwölfjähriger Sohn Paul aus dem zweiten Stock auf den Sarg seines Großvaters. Tagelang schwebt er in Lebensgefahr. Dann steht fest: Er ist querschnittsgelähmt und wird nie mehr gehen können. Die Frage, warum das Kind sprang, wird Madeleine noch lange quälen. Denn Paul schweigt. Kurze Zeit später fällt sie einer Intrige zum Opfer, die Gustave Joubert, der Prokurist der Bank, gemeinsam mit ihrem Onkel Charles, einem korrupten Politiker der Rechten, gegen sie angezettelt hat. Sie überredeten sie dazu, das gesamte Vermögen der Bank in rumänische Erdölaktien zu investieren. Aber nur, um damit gegen die Bank zu spekulieren und den Gewinn für sich einzustreichen.
Madeleine begriff die ganze Dimension der Manipulation, der sie zum Opfer gefallen war. Sie hatte das Bedürfnis, Joubert umzubringen, ihn wie eine Schlange zu zermalmen. „Man sieht sich immer zweimal im Leben, Gustave. Ich werde Pauls Anleihen benutzen, die ich in seinem Namen verwalte, um unser Leben neu zu organisieren, und…“ „Von welchen Anleihen sprechen Sie, Madeleine?“ „Von denen, die Paul von seinem Großvater geerbt hat.“ „Aber Madeleine, die haben Sie verkauft…“
Es ist ein großartiges, den Leser viel zu kurze 460 Romanseiten in Bann schlagendes Vergnügen zu verfolgen, wie Madeleine die Alltagsweisheit, dass man sich immer zwei Mal im Leben sieht, in eine kaltblütige Tat umsetzt. Mit langem Atem und schier unglaublicher Raffinesse und Skrupellosigkeit überzieht sie den betrügerischen Prokuristen und den korrupten Onkel mit einem Rachfeldzug, der beide am Ende für viele, viele Jahre ins Gefängnis bringen wird. Und noch eine dritte Rechnung muss sie begleichen. Denn endlich beichtet ihr Paul, dass er selbstmörderisch aus dem Fenster sprang, weil ihn sein Hauslehrer brutal missbrauchte. Die Grausamkeit und Konsequenz, mit der sie die Rache am Hauslehrer exekutieren will, verschlägt selbst ihrem Helfer Dupré, der bisher alles für sie tat, die Sprache.
„Sie haben mich für eine Arbeit engagiert. Dies gehört nicht zu meinem Vertrag.“ Um sich zu sammeln, griff Madeleine zu ihrem Glas Vichy und trank zwei Schlucke. „Wenn Ihre Prinzipien Sie dazu zwingen, können Sie mich in der Tat hier verlassen, Sie haben recht.“ „Und Ihre Moral, Ihre eigene, gestattet die es?“ „Oh ja, Monsieur Dupré“, antwortete Madeleine in einem Ton der Aufrichtigkeit, der ihn ins Herz traf. „Sie diktiert mir die schlimmsten Dinge…“
Der Begriff „Gesellschaftsroman“ ist etwas aus der Mode gekommen. Früher assoziierte man damit eine etwas seichte, an der Kolportage orientierte Unterhaltung. Pierre Lemaitre führt in seinem neuen Roman vor, was seit Honoré de Balzac ganz eigentlich darunter zu verstehen ist: Das Porträt einer Gesellschaft im Spiegel einer Romanhandlung, in der sich alle ihre Facetten, alle ihre Schichten und Milieus, – und in der sich ihr Drama wiederfinden lässt. In „Die Farben des Feuers“ ist das Drama der französischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit erfasst, einer Gesellschaft, die sich trotz aller „Erbfeindschaft“ auf bedrohliche Art und Weise dem Faschismus auf der anderen Seite des Rheins annäherte. Dies ausgerechnet an der Figur des querschnittsgelähmten kleinen Paul zu demonstrieren, der sich frühreif in eine dem „Führer“ zugewandte Sängerin verliebt, ist die überzeugendste Leistung dieses spracheleganten Autors. – Ja, so muss ein Roman sein!
Pierre Lemaitre, Die Farben des Feuers. Roman. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Klett-Cotta. 478 Seiten. 25 Euro
WDR 5 Bücher 23. März 2019