Seit den 80er Jahren scheinen die Deutschen nicht nur in den Augen der anderen, sondern auch in ihren eigenen eine besondere Vorliebe für apokalyptische Vorstellungen zu haben. Nicht bloß an den Stammtischen kursiert die Auffassung, eine krankhafte Lust an der Angst gehören zum ominösen deutschen „Volkscharakter“. – Es wurde höchste Zeit, dass sich ein Historiker mit der Entstehung dieses spezifisch deutschen Angstsyndrom nach dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt.
Die Vorstellung der German Angst war ein historisches Phänomen dieser Periode und gerade keine nationale Pathologie. Sie resultierte vielmehr aus einer stets präsenten, sich permanent verändernden und dynamischen Erinnerung an eine katastrophale Vergangenheit, die eine angstvolle und zuweilen apokalyptische Zukunftsantizipation nach sich zog.
Frank Biess liest in seinem Buch die Geschichte der Bundesrepublik daraufhin, welche Rolle die Angst in ihr spielte – und immer noch spielt. Die DDR klammert er dabei bewusst aus, denn in autoritären Regimes wie der DDR spiele Angst, so argumentiert er, eine grundsätzlich andere Rolle als in Demokratien.
Und darauf kommt es ihm an: Wie geht eine Demokratie mit den Ängsten ihrer Bürger um? Wie artikulieren sich umgekehrt deren Ängste in der Politik? Im Nachgang dieser Fragen interpretiert er die Geschichte der Bundesrepublik als eine Geschichte der Gefühle und der Gefühlspolitik. „Angst“ ist dabei für ihn ein Leitbegriff, unter den etwa auch Sorgen um den Arbeitsplatz oder die Unsicherheit um den Bestand der Demokratie gefasst werden.
Es liegt auf der Hand, dass nach der Erfahrung des physischen und moralischen Zusammenbruchs 1945 die Deutschen traumatisiert waren und an einer wie man es damals nannte: „Existentiellen Nachkriegsangst“ litten. Die wiederum war ein Reflex auf diverse andere, teils konkrete, teils phantasierte Ängste: In den ersten Kapiteln seines umfangreichen und faktensatten Buches analysiert Frank Biess die Ängste der Deutschen vor marodierenden „Fremdarbeitern“ oder einer angeblichen „jüdischen Vergeltung“. Realer waren die Ängste vor den Besatzern, die die Deutschen einer für sie nur widerwillig hingenommenen Entnazifizierung unterzogen. Fast übergangslos gingen diese Ängste im Kalten Krieg in eine ebenso reale neue Kriegsangst, die Angst vor der atomaren Apokalypse über. Die Adenauer-Regierungen in den 50er und Anfang der 60er Jahre reagierten darauf mit einem „nüchternen Emotionsregime“, d.h. mit einer Politik, die darauf abzielte, die Befürchtungen der Bevölkerung zu kontrollieren und einzudämmen. Ab der Mitte der 60er aber kam es zu einer bedeutsamen Verschiebung von äußeren zu inneren Ängsten und gleichzeitig zu einer stärkeren Emotionalisierung der Politik. Die Schlüsselrolle spielte dabei in den Augen des Autors der Umgang mit der Vergangenheit, mit NS-Regime und Holocaust.
Eine expandierende und zunehmend kritische Erinnerungskultur, wie sie sich in der Wiederaufnahme der juristischen Verfolgung der NS-Täter seit den sechziger Jahren spiegelte, trug wesentlich zur Entstehung dieser inneren Ängste bei. Im Gegensatz zur konventionellen psychoanalytischen Einsicht, dass Erinnerung Angst reduziert, wirkte die Belebung der Erinnerung an den Nationalsozialismus eher angstfördernd.
Gleichzeitig erhöhten diese Ängste jedoch auch die Sensibilität für den demokratischen Rechtsstaat und trugen paradoxerweise zur Stabilisierung der Demokratie in den 70er und 80er Jahren bei. Doch blieb, so die Kernthese des Autors, die deutsche Erinnerungskultur so etwas wie das Transportmittel der deutschen Ängsten vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute: Konservative sahen und sehen darin eine Bedrohung der deutschen nationalen Identität, Linke dagegen in einer unzureichenden Aufarbeitung eine Bedrohung für die Demokratie. Die daraus resultierende Emotionalisierung von Politik beförderte in den 90er Jahren eine verstärkte Empfänglichkeit für Angstbotschaften. Einerseits artikulierte die sich in der Ablehnung der Irakkriege, andererseits konnten Ängste gegen Fremde und Flüchtlinge mobilisiert werden. Dafür stehen die Pogrome von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen Anfang der 90er Jahre.
Im letzten Kapitel seines Buches geht Frank Biess auf den Aufstieg des Rechtspopulismus ein, den er als eine Angstbewegung interpretiert. Und zwar seien es weniger Abstiegs- als Zukunftsängste, die etwa die Wähler der AfD umtreiben. Deren Programm lese sich wie ein nicht enden wollender Aufruf zur Gefahrenabwehr. Sie reklamiere für sich, die Zukunftsängste der Bürgerinnen und Bürger zu benennen und operiere damit innerhalb einer in den siebziger Jahren in der Linken entstandenen „expressiven Emotionskultur“. Allerdings richte sie die auf neue Angstobjekte aus, auf Muslime, Migranten und die „Eliten“ des Staates und transformiere dabei Angst in Hass und Gewalt. Deshalb stellt sich der Autor am Ende seines überaus spannenden, klug überraschende Zusammenhänge herstellenden Buches die Frage, welche Möglichkeiten zur Abwehr der vom Rechtspopulismus propagierten Angstpolitik es gibt. Im Anschluss an den Politologen Herfried Münkler kommt er zum Schluss, dass demokratische Politik diffuse Angst in konkrete Furcht verwandeln müsse.
Ein Mittel demokratischer Gefühlspolitik ist paradoxerweise die Kultivierung demokratischer Ängste. Wie die Angstgeschichte der alten Bundesrepublik belegt, war gerade die permanente Angst vor dem Zurückfallen in einen neuen Autoritarismus eine der Grundbedingungen der Demokratisierung der Nachkriegszeit. Heute ginge es darum, angesichts des Rechtspopulismus die Angst vor dem Verlust der liberalen Demokratie und pluralistischen Gesellschaft zu mobilisieren.
WDR 3 Mosaik 21.März 2019
Frank Biess, Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. Rowohlt 2019. 613 Seiten. 22 Euro