Wenn es neblig, nass und glatt ist, gelten im Straßenverkehr die Regeln des Auf-Sicht-Fahrens: Wer kaum mehr als zwanzig oder dreißig Meter weit sehen kann, geht vom Gas, fährt vorsichtig und umsichtig, denn er weiß ja nicht, was noch kommt. In der Politik scheinen die Regeln des Auf-Sicht-Fahrens völlig unabhängig von irgendwelchen gesellschaftlichen Wetterlagen und Entwicklungen zu gelten. Politik fährt fast immer nur auf Sicht. Da das Auge bloß auf den nächsten Wahltermin und die nächste Mandatsverlängerung gerichtet ist, wird es kurzsichtig. So kommt es zum Beispiel, dass die Politiker fast sämtlicher Bundesländer am Ende jeder, aber auch wirklich jeder Sommerferien mit dem Entsetzensschrei konfrontiert werden, dass es viel zu wenig Lehrer gibt. Dabei hätte man mit Leichtigkeit die Anzahl der neuen Schüler ebenso vorausberechen können wie die der fehlenden Lehramtsstudenten. Und in Bezug auf die letzte Zahl längst schon langfristige Steuerungen angehen können.
Wie leicht so etwas geht, macht jetzt der Verkehrsausschuss des Bundesrats vor, der sich mit einer den Führerschein betreffenden EU-Verordnung auseinandergesetzt hat. Danach müssen bis zum 19. Januar 2033 in Europa sämtliche alten Führerscheine gegen standarisierte Plastikkärtchen ausgetauscht werden. – 2033! Das sind komplette 14 Jahre! Ein für gewöhnliche Politiker unfassbar langer Zeitraum. So weit kann man gar nicht vorausschauen, geschweige planen! Der Bundesratsausschuss aber sah voraus, dass wenn die 43 Millionen betroffenen Autofahrer alle Ende 2032/Anfang 2033 zum Umtausch in die Ämter stürmten, deren Zusammenbruch vorprogrammiert ist. Entsprechend hat er einen klug nach Führerscheinjahrgängen gestuften und über die 14 Jahre verteilten Plan für die Umtauschaktion vorgelegt. Einen Plan überdies, der auch die Gefühle der älteren Führerscheinbesitzer berücksichtigt, die noch an ihrem geliebten alten grauen Lappen hängen: Wer vor 1953 geboren ist, darf ihn behalten.
Zu Beginn der 1980er Jahre veröffentlichte der Schweizer Historiker Arthur E. Imhof viele Bücher, die sich mit der „Zunahme unserer Lebensspanne“ beschäftigten. Er entwarf darin eine Reihe von Vorschlägen, wie künftig mit der „Überalterung“, der „Vereinsamung alter Menschen“ und der „Bedrohung des Generationsvertrages“ umzugehen sei. – In Deutschland brauchte die Politik dann noch geschlagene 32 Jahre, bis ihr diese Probleme zu Bewusstsein kamen. Der erste „Demografiegipfel“ fand im Oktober 2012 statt. Verwundert rieben sich die Minister die Augen angesichts dessen, was sie bisher bei ihrer „Fahrt auf Sicht“ alles übersehen bzw. verschlafen hatten: Dass es in absehbarer Zeit – also bis 2020 – in Verwaltungen, vor allem im Gesundheits- und im Pflegewesen zu dramatischen Engpässen kommen werde. Jetzt ist bald 2020. Und das Pflegewesen steht kurz vor dem Systemkollaps. Es ist schon erstaunlich zu beobachten, wie den Politikstrategen für Führerscheine und selbst alte „Lappen“ ein Zeitmanagement auf lange Sicht gelingt. Bei alten Menschen aber nicht.
WDR 3 Resonanzen 15.02.2019