Kurt Holl war in Köln bekannt wie ein bunter Hund. Immer, wenn die kölsche Obrigkeit sich wieder einmal als selbstherrlich, ignorant und ungerecht gegenüber den Schwachen erwies, tauchte der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart und der Lederjacke auf. Mit spektakulären, phantasievollen Aktionen sorgte er für Öffentlichkeit. Lange nach 1968 und bis zu seinem Tod im Jahr 2015 war und blieb er der Prototyp des antiautoritären „68ers“ und mit seinem Freund Klaus dem Geiger Kölns bekanntester Links-Aktivist. – Und dann liest man von ihm so was:
An meinem Fahrrad befestigte ich links und rechts Plakate mit der Aufschrift JESUS CHRISTUS SUCHT DICH. So fuhr ich dann durch Köln. An Weihnachten gesellte ich mich zu den Huren der Kleinen Brinkgasse, die mein missionarisches Engagement belächelten, während ich selbst längst völlig verwirrt war von den Riesenbrüsten, die mir da auf dem Fenstersims entgegenrollten. Weder hier noch in irgendeiner meiner anderen Jesus-Aktivitäten verspürte ich je einen Hauch von Peinlichkeit. Doch das sollte sich bald ändern.
Missionarischer Eifer war dem 1938 im protestantischen Nördlingen Geborenen also sozusagen in die Wiege gelegt. Aus seinen biografischen Notizen erfährt man, wie aus dem jungen Theologie-Studenten und Jesus-Aktivisten ein Führer des Kölner Sozialistischen Deutschen Studentenbundes wurde, der von Anfang an mit witzigen Provokationen auf die politischen Missstände in der Bundesrepublik aufmerksam machte. Nach dem Studium büßte er deswegen mit dem Berufsverbot, erkämpfte sich aber vor Gericht eine Anstellung als nicht verbeamteter Studienrat. Und fiel natürlich auch in dieser Rolle wieder aus der Rolle. Als seine Kollegen gegen ein Sinti-Camp neben der Schule protestierten, ging er mit seinen Schülern ins Camp und machte dort seinen Unterricht. Später ließ er sich im ehemaligen Gestapo-Gefängnis im EL-DE-Haus einschließen und zwang eine verbohrte Stadtverwaltung zur Einrichtung des heute berühmten NS-Dokumentationszentrums. In den letzten zwanzig Jahren steckte er alle seine Energie in Projekte zur Integration von Sinti und Roma.
Einen bestimmten Vorwurf hörte ich im Laufe meines Lebens immer wieder. Der Vorwurf kam von meinen von Kollegen und Genossen genauso wie von Freunden und Freundinnen und nicht zuletzt von meinen Geliebten: „Wenn ich dich wirklich brauche, ist immer etwas anderes wichtiger.“ – An dem Vorwurf ist was dran. Neben Kritik, Lob und Bestätigung meines Engagements brachte diese Hingabe auch persönliche Enttäuschungen mit sich, so dass ich für manche ein „geliebtes Arschloch“ war.
Nun sind Autobiografien meistens zu dem Zweck geschrieben, solche Vorwürfe oder Selbstvorwürfe zu entkräften. Das ist bei diesem Buch nicht der Fall. Klug überlässt es die Antwort auf persönliche Fragen anderen als dem Autobiografen. Dessen Notizen sind nämlich eingebettet in ein ausführliches Interview, in dem die Lektorin Petra Steuber die beiden erwachsenen Söhne Kurt Holls nach ihrem Verhältnis zum Vater befragt. Aus diesem sehr differenzierten, Kritik keineswegs aussparenden Gespräch entsteht für den Leser das Bild einer Persönlichkeit, die zwar in ihren zahlreichen politischen Aktivitäten aufging. Die es aber auch immer verstand, andere dabei mitzunehmen und zu eigenem Engagement anzustiften.
Kurt Holl. Autobiografisches Porträt eines 68ers. WDR 5 Bücher 5. Januar 2019