Am 22. Februar 1942 schrieb Stefan Zweig im brasilianischen Petropolis seinen letzten Brief. Darin dankt er dem „wundervollen Lande Brasilien“ innig für seine „ gute und gastliche Rast“ und fährt fort: „Nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet. Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft.“
Sechs Jahre später, im August 1948, traf sich im oberbayrischen Herrenchiemsee der Parlamentarische Rat, um über die künftige Verfassung der Bundesrepublik Deutschland zu beraten. Allen seinen Mitgliedern standen damals noch unmittelbar die Hunderttausende von Deutschen vor Augen, die durch die Nazidiktatur ein ähnliches, meist noch viel bittereres Schicksal als Stefan Zweig erlitten hatten. Der einfache Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ wurde im Lichte der Erfahrung derjenigen als Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 ins Grundgesetz geschrieben, die nach 1939 von vielen Staaten zurückgewiesen wurden, mittellos durch die Welt irrten oder in Auffanglagern vegetieren mussten.
Es stimmt schon: Kaum eine andere Verfassung als die Deutschlands garantiert ein so umfassendes individuelles Asylrecht. Aber kaum ein anderes Land hat auch eine ähnliche Geschichte wie Deutschland. Und deshalb gehört der Schutz aller politisch Verfolgten zur Identität der Bundesrepublik, zum Kernbestand des deutschen Patriotismus. Eine traurige Tatsache ist allerdings auch, dass diese Identität inzwischen arg angenagt ist. Durch eine unter dem Eindruck vermehrter Einwanderung herbeidiskutierte Grundgesetzänderung wurde 1993 der alte Artikel in einen neuen Artikel 16a verwandelt. Zwar steht dort immer noch „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Doch die nachfolgenden Bestimmungen heben dieses Recht faktisch auf. Nur, wer nicht über einen anderen EU-Mitgliedstaat eingereist ist, kann sich darauf berufen. Und das ist so gut wie niemand. Denn Deutschland hat keine Außengrenze, ist umgeben von EU-Mitgliedstaaten. Entsprechend ist die Zahl der anerkannten Asylanträge drastisch gesunken. Seit 2009 liegt sie unter zwei Prozent. Ganze 2.403 Menschen wurden in diesem Jahr als politisch Verfolgte anerkannt.
Wer angesichts dieser Zahlen einen dringenden Anlass sieht, das Asylrecht in Frage zu stellen, dem kann es also gar nicht um dieses ohnehin ausgehöhlte Grundrecht selbst gehen. Dem geht es um nichts anderes als um ausländerfeindliche Stimmungsmache, der schürt Hass und unpatriotischen Nationalismus. Und trägt damit zur Zerstörung dessen bei, was Stefan Zweig 1942 seine „geistige Heimat Europa“ nannte.
WDR 3 Mosaik 23. November 2018