Mit Stolz hat sich die moderne, „postindustrielle“ Gesellschaft den Titel „Wissensgesellschaft“ gegeben: Alle Entscheidungen werden in ihr auf wissenschaftlicher Grundlage herbeigeführt. Zuständig dafür sind die Experten. Ohne Experten würden die Institutionen des Staates lahmgelegt und das gesellschaftliche Leben zusammenbrechen. – So weit das Ideal. In der Wirklichkeit allerdings wurde der Status der Experten in der jüngsten Vergangenheit arg gerupft. Nach einhelliger demoskopischer Expertenmeinung sprach vor der Brexit-Entscheidung alles für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Ebenso war es bei der letzten amerikanischen Präsidentschaftswahl für die Experten vollkommen klar, dass Hilary Clinton gewinnen würde. Gründlicher konnten sich die Experten nicht blamieren.
Wer heute die Apokalypse der Expertise ausruft, ist genauso wirklichkeitsfremd wie die Propheten, die vor dreißig Jahren die Ankunft der Wissensgesellschaft verkündet haben. Was Experten derzeit widerfährt, ist kein Tod auf Raten, verschuldet durch die digital verdorbenen Massen der Dummen und Faulen, sondern ein medial inszeniertes Degradierungsritual. Degradiert werden kann aber nur, wer zuvor privilegiert worden ist. Genau deswegen gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Expertenkult der jüngeren Vergangenheit und der Expertenschelte der Gegenwart.
Der in St.Gallen lehrende Schweizer Historiker Caspar Hirschi geht in seiner weit in die Geschichte ausholenden Studie der gesellschaftlichen und politischen Rolle des Experten nach. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei dem Zusammenspiel von Politik und Experten. Denn einerseits ist Politik in komplexen Gesellschaften ohne Expertenberatung überhaupt nicht möglich. Zum anderen aber bezieht die Politik ihre Legitimation weitgehend daraus, „wissensbasiert“ zu agieren. Was die Gefahr birgt, die Experten zu instrumentalisieren, Expertisen für Propagandazwecke zu nutzen.
Diese Gefahr war, wie der Autor zeigen kann, bereits in der „Erfindung“ des Experten im ancien régime unter Ludwig XIV. angelegt. Ursprünglich waren Experten dort unabhängige, allein durch ihre wissenschaftliche Qualifikation ausgewiesene Gerichtsgutachter. Dann aber wurden sie nur noch zugelassen, wenn sie Mitglieder der königlichen Akademie waren. Durch die öffentliche Anerkennung und Ausstrahlung dieser Institution aber wurde ihr Expertentum zu einem zweischneidigen Schwert.
Sobald offizielle Experten in die Position von öffentlichen Autoritäten aufrücken, wird es für Politiker interessant, ihre Urteile zu manipulieren und für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, besonders dann, wenn es um ihre eigene öffentliche Autorität nicht zum Besten bestellt ist.
Die Fallbeispiele, mit denen Caspar Hirschi arbeitet, haben allesamt öffentliche Skandale zum Gegenstand, bei denen Experten eine entscheidende Rolle spielten. Diese „Expertenskandale“ wählte er deshalb, weil öffentliche Skandale innere Spannungen im Normengefüge einer Gesellschaft an die Oberfläche spülen. An ihnen lassen sich deshalb die ambivalenten Beziehungen zwischen Politik, wissenschaftlichem Expertentum und Öffentlichkeit am besten untersuchen.
Im Fall des Justizskandals um den 1762 grausam hingerichteten Jean Calas wurde erstmals die Orientierungsfunktion von Expertenwissen sichtbar, wenn es unabhängig von politischen Nutzbarkeitserwägungen wirken kann. Der Protestant Calas wurde verurteilt, weil er angeblich seinen Sohn wegen dessen Absicht, zum Katholizismus überzutreten, ermordete. Die Intervention eines „intellektuellen“ Experten, des Aufklärers Voltaire, führte zur Neuauflage des Verfahrens. Mit Hilfe weiterer, juristischer und medizinischer Experten konnten der Mordvorwurf entkräftet und der Verurteilte und seine Familie rehabilitiert werden. Ähnlich verlief mehr als hundert Jahre später die Affäre Dreyfus. Der Unterschied allerdings bestand hier darin, dass die Intervention des „intellektuellen“ Experten, Emile Zola, dadurch legitimiert war, dass die anderen Experten – in dem Fall die Graphologen – ihre Glaubwürdigkeit aufgrund von Vorurteilen und Fehldeutungen verspielt hatten.
Das letzte und jüngste Beispiel des Autors sind die Expertenprozesse nach dem verheerenden Erdbeben vom April 2009 im italienischen Aquila, bei dem 308 Menschen starben. Drei Jahre danach verurteilte ein Gericht sechs Experten – Seismologen – wegen fahrlässiger Tötung zu langen Freiheitsstrafen. Sie hätten, so der Richter, gegen ihr eigenes Wissen den Stadtbewohnern den Eindruck vermittelt, es bestehe keine Gefahr. Zwar kassierte 2014 ein Berufungsgericht dieses Urteil. Fest steht allerdings, das die Experten die beschwichtigende Propaganda des Zivilschutzamtes mit trugen und sich damit zum verlängerten Arm der populistischen Regierung Berlusconi machten.
Das Expertenbeben von L’Aquila erscheint hier als Extrembeispiel für zwei miteinander verschränkte Probleme, die in allen spätmodernen Staaten latent bestehen und jederzeit manifest werden können: die ideologische Überhöhung und die politische Instrumentalisierung von Experten. Wissenschaftler bewirtschaften stärker das erste und Politiker das zweite Problem, beide stehen einander jedoch Pate und brauchen die Staatsbürger als gläubiges Publikum.
Caspar Hirschis Buch ist ein hervorragender Beitrag der Geschichtswissenschaft zu einem aktuellen politischen Problem. Erst die historische Durchleuchtung der Institution des Expertentums legt deren Ambivalenz frei. Darüber hinaus macht das Talent des Autors, seine Fallbeispiele als spannende kriminologische und kulturhistorische Geschichten zu erzählen, sein Buch auch zu einem literarischen Lesegenuss.
Caspar Hirschi, Skandalexperten, Expertenskandale.
Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems. Verlag Matthes & Seitz 2018. 398 Seiten, Gebunden. Preis: 28,00 €
WDR3 Mosaik 1611.2018