Warum die Deutschen ausgerechnet im neblig-kalten November sowohl ihre Groß- wie ihre Untaten begehen, ist möglicherweise eine Mentalitätsfrage. Wahrscheinlicher jedoch dem Zufall zu verdanken. Dass sie aber, die sie sonst doch die Weltmeister im historischen Aufarbeiten und Gedenken sind, den Tag ihrer größten Novembertaten nicht zu ihrem Nationalfeiertag gemacht haben, ist nach wie vor eine Schande. Die Idee, den 3. Oktober 1990, den Tag der formellen Eingliederung der DDR in die BRD zum deutschen Nationalfeiertag zu machen, entsprang furchtsamen Bürokratenhirnen. Nahezu zwingend wäre aber das Datum des 9. November gewesen. Denn der 9. November ist der Tag der deutschen Demokratie! An einem 9. November erstritten die Deutschen 1918 die Ausrufung der ersten deutschen demokratischen Republik. Und an einem 9. November rissen sie 1989 aus eigener Kraft die Mauer ein, die die Einheit dieser Demokratie bis dahin verhinderte.
Das Argument der Bedenkenträger im Jahr der Wiedervereinigung 1990 war: Der 9. November als deutscher Nationalfeiertag sei ungeeignet, weil an diesem Tag im Jahr 1938 der Höhepunkt des „Reichskristallnacht“ genannten antisemitischen Pogroms war. Und im übrigen auch der Tag, an dem Hitler im Jahr 1923 in München einen Putsch versuchte. – Na und? Muss man heute fragen, wo das Gedenken auch an Nazi-Untaten zur deutschen Erinnerungskultur und zu unserer nationalen demokratischen Identität gehören. Am 9. November 1918 dagegen fand das Ereignis statt, das diese Identität erst begründete. Auf dem Höhepunkt der den Kaiser und die Monarchie hinwegfegenden Novemberrevolution rief der SPD-Politiker Philipp Scheidemann vom Reichstag die erste deutsche Republik aus. Es wurde eine demokratische, die Weimarer Republik.
Heute wird der Weimarer Republik oft ihre konstitutionelle Schwäche vorgehalten. Das instabile Mehrparteiensystem. Die Übermacht des Präsidenten. Darüber gerät in Vergessenheit, dass wir der am 9. November erkämpften Weimarer Republik solche heute als selbstverständlich geltenden Errungenschaften wie das allgemeine und freie Wahlrecht verdanken. Das Frauenwahlrecht. Die Institutionalisierung der Gewaltenteilung und die Autonomie der Tarifpartner. Und so etwas wie einen demokratischen Patriotismus. Den allerdings teilten am Ende der Republik zu wenige.
Vor ein paar Tagen erschien eine Studie der Universität Leipzig. Danach stimmen 95 Prozent der Deutschen der „Demokratie als Idee“ zu. Mit der real erfahrenen Demokratie aber ist nur knapp die Hälfte der Befragten einverstanden. Ein Drittel neigt zu rechtsextremen Ansichten. Mehr als 10 Prozent wünschen sich einen starken Führer, der Deutschland wieder mit „harter Hand“ regiert. – Erfreulicherweise stellte der deutsche Bundespräsident heute eine Verbindung zwischen dieser Studie und dem 9. November 1918 her. Denn immerhin: Heute morgen gab es im Deutschen Bundestag eine Gedenkstunde zum 9. November 1918. Frank-Walter Steinmeier erinnerte an den heute vor 100 Jahren in Weimar entstandenen demokratischen Patriotismus. Gleichzeitig rief er zu mehr Engagement für die nun wieder gefährdete deutsche Demokratie auf. Gedenken ist kein Selbstzweck. Es ist dazu da, Energie zu gewinnen, um das in der Vergangenheit Erkämpfte zu verteidigen.
WDR 3 Resonanzen 9. November 2018