Eine überaus erfolgreiche Methode, ein Problem nicht zu lösen, besteht darin, sich ein neues und viel größeres Problem vorzuknöpfen. Angesichts dieser überwältigenden und ebenfalls nicht zu lösenden Aufgabe verschwindet dann das erste Problem wie von selbst. Diese Methode funktioniert bei kleinsten Alltagsdingen, besonders gut aber funktioniert sie in der Politik. Und am besten in der Bildungspolitik. Da heißt das Problem seit Jahr und Tag: Lehrermangel. Mit schönster Regelmäßigkeit, aber immer wieder hoch erstaunt müssen viele Bundesländer zu Beginn eines jeden Schuljahres feststellen, dass es zu wenig Lehrer gibt. Dieses Jahr waren es bundesweit 10.000. 30.000 Lehrerstellen sind nur notdürftig besetzt. Unionsfraktionschef Volker Kauder rief den Bildungsnotstand aus und warf den Ländern vor, den Lehrermangel verschlafen zu haben.
Wie immer bei solchen Vorwürfen, verwahren sich die Länder dagegen und behaupten, es gebe bei ihnen keinen Lehrermangel. Oder sie verweisen darauf, dass sie ausreichend Ersatz beschaffen, „Seiteneinsteiger“, Studenten oder Pensionäre beschäftigen. Von Anstrengungen, langfristig besser zu planen und für mehr Lehrer zu sorgen, wurde nichts bekannt. Dafür aber von einem gewaltigen neuen Problem. Es heißt: Digitalisierung der Schulen. Ende der vergangenen Woche trafen sich die Ministerpräsidenten dazu. Die Bundesregierung will nämlich im Rahmen eines „Digitalpakts Schule“ bis 2024 fünf Milliarden Euro bereitstellen, um alle Schulen internetfähig zu machen und den Einsatz von Online-Methoden im Unterricht zu verstärken. Damit sind die Länderchefs zwar einverstanden – doch wollen sie durch eine Grundgesetzänderung sichergestellt sehen, dass ihnen ihre Bildungshoheit erhalten bleibt und sie selbst über die digitalen Inhalte in den Schulen bestimmen können. Darüber wird dann im nächsten Jahr verhandelt. Das Problem „Digitalisierung der Schule“ bleibt uns also erhalten, wird sich ausweiten und türmen, bis dahinter das Problem Lehrermangel endgültig verschwunden ist.
Der Frage aber, was denn genau unter „Digitalisierung der Schule“ zu verstehen und wie pädagogisch nützlich sie tatsächlich ist, stellt allerdings niemand mehr. Der Bund hat sich auf seinen „Digitalpakt“, die Länder selbst haben sich auf ihre Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ festgelegt. Die Forderung nach Digitalisierung wo auch immer und wie auch immer ist zur allgegenwärtigen Phrase, sie selbst zum Fetisch geworden, an den sich sämtliche Heilserwartungen knüpfen lassen.
Seit 20 Jahren kommen in deutschen Schulen Computer zum Einsatz und gibt es das Schulfach Informatik. Dass das nicht auf 100 Prozent der Schulen zutrifft, ist kein Grund zur Panik. Denn niemand hat bisher den Nachweis erbracht, dass Schüler schneller lernen, sich mehr anstrengen und am Ende intelligenter werden, wenn tablets oder digitale Wandtafeln im Einsatz sind. Und es gibt auch keine Expertise dazu, ob durch „Digitalisierung“ eine Lösung des Problems Lehrermangel zu managen ist. – Es sei denn, dahinter verberge sich der Plan, in Zukunft Lehrer durch autonome Digitaltechnik zu ersetzen, einprogrammierte Kompetenzen durch Software-Optionen zu vermitteln und statt Haltung verwertbares Verhalten zu lehren. Dann könnte man tatsächlich den Schulunterricht gleich Google, Apple und Microsoft überlassen.
WDR 3 Mosaik 29.10.2018