Robert Gerwarth, Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit. Siedler-Verlag 2018. 383 Seiten. 28 Euro
Das Schicksal der ersten deutschen, der Weimarer Republik, war schon an ihrem Anfang besiegelt. Durch die „misslungene“ Revolution vom November 1918. Der demokratische Staat, der aus ihr hervorging, war, heißt es, zu schwach, sich auf Dauer gegen seine Feinde zu wehren. – Der in Dublin lehrende Historiker Robert Gerwarth sieht das in seinem neuen Buch etwas anders.
Das Spannende an der Geschichte der Weimarer Republik ist ja, dass sie ungeachtet dieser vielfältigen Probleme, die natürlich immer wieder in den Geschichten der Weimarer Republik erwähnt werden, dass sie ungeachtet dieser vielfältigen Probleme, die sehr viel größer sind als die Probleme, mit denen die Bundesrepublik heute konfrontiert ist, dass sie es trotzdem geschafft hat, bis 1933 zu überstehen.
Im Vergleich zu den vielen anderen staatlichen Neugründungen nach dem 1. Weltkrieg war Weimar tatsächlich die am längsten funktionierende Demokratie in Europa. Insofern, so argumentiert der Autor, müsse man die deutsche Novemberrevolution als einen Erfolg betrachten. Denn immerhin habe sie einen politischen Systemwechsel zustande gebracht: Die Monarchie wurde durch eine parlamentarische Demokratie ersetzt, das allgemeine und das Frauenwahlrecht durchgesetzt. Errungenschaften, auf denen unsere heutige Demokratie aufbauen konnte. – Die Methode, mit der Robert Gerwarth dazu kommt, die Novemberrevolution so positiv zu bewerten, besteht darin, die Blickrichtung auf die Revolution zu ändern: Auf sie nicht vom Ende Weimars 1933 her zu schauen, sondern die Sicht der damals Handelnden einzunehmen.
Ich denke, dass es aus der Retrospektive vielleicht einfacher ist, bestimmte „Fehler“ in Anfügungszeichen in der frühen Revolutionsphase zu sehen. Ich habe mich bemüht in dem Buch, sehr streng die Perspektive der Teilnehmenden einzunehmen. Aus der Perspektive der Handelnden und natürlich der Mehrheitssozialdemokratischen Führung stellt sich die Frage, wie man einen potentiellen Bürgerkrieg, der ja in Russland Realität wird, abwenden kann.
Bis zum Ende des Jahres 1923 wurde die Gefahr eines Bürgerkrieges gebannt. Alle Putschversuche von rechts und von links wurden niedergeschlagen, die parlamentarische Demokratie konnte sich stabilisieren und blieb auch bis zum Jahr 1928 stabil. – Dennoch bleibt die Frage, wie real denn tatsächlich zwischen 1918 und 1923 die Gefahr eines dem russischen vergleichbaren Bürgerkrieges war. Ob die Kräfte der extremen Linken dazu überhaupt ausgereicht hätten.
Die Situation ist allerdings so, dass natürlich Anfang 1919 sowohl Luxemburg als auch Liebknecht vielleicht keine russischen Verhältnisse in Deutschland schaffen möchten, die Wahrnehmung aber eine andere ist. D.h. also die Bedrohung wird tatsächlich als sehr real empfunden und es lässt sich aus der Retrospektive immer sehr leicht sagen, dass man doch sicher einen besseren Weg hätte finden können. Aus der Perspektive der Zeitgenossen ist das sehr viel schwieriger zu beantworten.
Tatsache ist, dass die von den Mehrheitssozialdemokraten geführten Regierungen während und nach der Revolution gegen die vermeintliche Bürgerkriegsgefahr von links ausgerechnet immer wieder illegale rechtsradikale Truppen, die sogenannten Freikorps, einsetzen. Hatten sie wirklich keine anderen Möglichkeiten? Um 1923 den Hitlerputsch niederzuschlagen, reichte ein 130 Mann starkes Polizeibataillon. – Jedenfalls trugen diese brutalen militärischen Interventionen der SPD den bis heute zu hörenden Ruf ein, damals die Arbeiterbewegung verraten zu haben. Und führten tatsächlich zu deren politischen Schwächung und damit auch zur Schwächung der Demokratie.
Robert Gerwarth hat ein sehr lesenswertes und auch leicht zu lesendes Buch geschrieben. Das Einweben von Zeitzeugenberichten wie den Tagebüchern von Käthe Kollwitz oder Victor Klemperer ist ein großer Gewinn für einen historiografischen Text. – Kann seine Darstellung überzeugen, – die Hauptthese des Buches tut es nicht ganz. Die Feststellung, dass dank einer erfolgreichen Revolution die Weimarer Republik 1923 stabil war und es bis 1928 blieb, entspricht zwar dem Kenntnisstand der neuesten Weimar-Forschung. Sie spricht wie Robert Gerwarth davon, dass die Zukunft der Republik 1928 noch vollkommen unvorhersehbar war. Allerdings trifft das lediglich für den staatlich-parlamentarischen Überbau zu. Entscheidende andere Weichen waren 1918 aber nicht umgelegt worden. Beispielsweise unterblieb die damals durchaus mehrheitsfähige Verstaatlichung der Schlüsselindustrien. Und auch eine Menge institutioneller Probleme war ungelöst. Reichswehr und Wehrverbände blieben ebenso Feinde der Republik wie der aus der Kaiserzeit übernommene Beamtenapparat, der nie reformiert wurde. Und auch der Justizapparat war und blieb bis zum Ende der Republik ein Hort der Reaktion. – Aus der Perspektive der damals politisch Handelnden waren diese Probleme sicher nicht ohne weiteres als die Faktoren auszumachen, die zum Untergang der Demokratie führten. Das blieb kritischen Beobachtern wie Kurt Tucholsky vorbehalten. Und den nachgeborenen Historikern. So problematisch deren retrospektiver Blick manchmal auch sein mag, ganz ohne Erkenntnisgewinn – auch für die Gegenwart – ist er sicher nicht.
WDR 3 Mosaik 18. Oktober 2018