In der litauischen Stadt Wilna steht seit 2007 eine kleine Bronzestatue. Sie stellt einen neun oder zehn Jahre alten Jungen dar, der erwartungsvoll den Blick zum Himmel hebt, so, als erwarte er von dort ein Wunder. Die Statue erinnert an den französischen Schriftsteller Romain Gary, der 1914 als Roman Katzev in Wilna geboren wurde. Der erwartungsvolle Blick der Statue hat etwas mit Garys realer Kindheit in einer der trostlosen Mietskasernen Wilnas zu tun. Denn die Mutter des Jungen, Mina, eine gescheiterte polnische Schauspielerin, die sich als Schneiderin durchschlug, hatte Großes, allzu Großes mit ihm vor. All das, was sie nicht erreicht hatte, sollte er zuwege bringen. Wahlweise plante sie für ihn eine Karriere als weltberühmter Geigenvirtuose, Tänzer, Dichter oder Diplomat. So phantastisch waren diese Pläne, dass die Nachbarn im Mietshaus nur den Kopf darüber schüttelten. Alle bis auf einen, einen kleinen, spitzbärtigen, Mann namens Piekielny, der einer freundlichen Maus ähnlich sah. Er bekräftigte den Jungen in seinem Glauben, eines Tages berühmt zu werden, ja, er glaubte selbst daran, wollte teilhaben an seinem Ruhm:
Wenn du dann Persönlichkeiten begegnest, bedeutenden Männern, versprich mir, dass du ihnen sagen wirst: In der Großen Pohulanka Nr. 16 in Wilna lebte ein gewisser Herr Piekielny…
Nun wurde aus Roman Katzev, nachdem seine Mutter mit ihm nach Nizza ausgewandert und er sich den Namen Romain Gary zugelegt hatte, tatsächlich ein berühmter Mann, ein preisgekrönter Schriftsteller und weltgewandter Diplomat. Und: Er hielt sich an sein Versprechen. Immer, wenn er andere berühmte Leute traf, General de Gaulle etwa oder John F. Kennedy, dann sagte er am Schluss ihrer Unterhaltung: „In der Großen Pohulanka Nr. 16 in Wilna lebte ein gewisser Herr Piekielny…“ Jedenfalls behauptet Gary das in dem seiner Mutter gewidmeten autobiografischen Roman „Frühes Versprechen“. – Ein anderer, noch sehr junger Schriftsteller, Francois-Henri Désérable, geht dieser Behauptung nun in einem eigenen, überaus charmanten und gleichzeitig auch sehr melancholischen Roman nach. In ihm macht sich der Ich-Erzähler zunächst mit der Gründlichkeit eines Historikers auf die Suche nach dem wirklichen Herrn Piekielny. Wochenlang durchforstet er in Wilna vergilbte Melderegister, stöbert in modrigen Chroniken. Vergeblich. Keine Spur von einem Piekielny. Ihm wird klar, dass er nie wirklich erfahren wird, wer Piekielny war. – Also erfindet er ihn.
Warum hörte ich, wenn ich an Piekielny dachte, eine Geige? Vielleicht, weil er eine spielte. – Wenn er das Instrument an den Hals, zwischen Schlüsselbein und Kiefer, gelegt hatte, spielte er viele nächtliche Stunden, doch niemals erklang ein einziger Ton. Niemals berührten die Bogenhaare die Saiten der Geige, die er absichtlich umgedreht hatte. Seine Nachbarn schliefen sicherlich, er wollte sich keinen Ärger einhandeln und hatte die Absicht, sein Leben so zuführen, dass man ihm nicht den geringsten Vorwurf machen konnte. Es war ihm peinlich zu existieren. Daher gab er sich der sinnlichen Melodie der Stille hin, strich mit dem Bogen über das lackierte Holz der Geige, spielte nicht wirklich, aber schaute wirklich zu den Sternen hinauf.
In die mit großer poetischer Phantasie gezeichneten Spekulationen seines Ich-Erzählers über Piekielny flicht der Autor eine ergreifende Chronik des jüdischen Lebens in Wilna vor dem 2. Weltkrieg ein. Denn Gary und seine Mutter waren Juden. Also war auch Herr Piekielny Jude und die „freundliche Maus“ wird, wie Romain Gary in seinem Roman schrieb, „zusammen mit Millionen anderer Juden ihre winzige Existenz in den Krematoriumsöfen der Nazis beendet“ haben. – Aber wieso ist Gary sich da eigentlich so sicher? Je mehr er darüber nachdenkt, umso mehr befallen den Erzähler Zweifel, ob Gary die Wahrheit über den kleinen Herrn Piekielny geschrieben hat. Er durchforstetet noch einmal Garys Roman und auch Garys Leben. Und kommt zu dem Ergebnis, dass Romain Gary nicht nur ein großer Lügner war, sondern dass er ganz speziell auch gelogen hat, was seine Behauptung angeht, er habe de Gaulle oder Kennedy erzählt, „In der Großen Pohulanka Nr. 16 in Wilna lebte ein gewisser Herr Piekielny…“ Ist am Ende vielleicht sogar dieser Herr Piekielny eine Erfindung Garys gewesen? Eine fromme Lüge, um seinen ermordeten Brüdern in Wilna ein Denkmal zu setzen? – Der Erzähler fährt noch einmal nach Wilna. Und wie es der Zufall will, begegnet ihm dort eine uralte Frau, die behauptet, Piekielny gekannt zu haben. Piekielny sei aber bloß sein Spitzname gewesen. In Wahrheit habe er – warten Sie mal, ja, er habe… – Nein! Nein! Der Erzähler will es gar nicht mehr wissen. Statt weiter zu recherchieren, fragt er am Schluss den natürlich längst verstorbenen Romain Gary selbst nach der Wahrheit, den Mann, der einst die Szene zwischen dem kleinen Roman und dem kleinen Herrn Piekielny in der Wilnaer Mietskaserne schrieb:
Was hättest du wohl geantwortet? Du hättest dich wie immer mit einer Pirouette herausgewunden, du hättest mir gesagt, wichtig sei es, sie zu glauben, und im Übrigen hätte ich sie ja geglaubt, du hättest mir gesagt, genau das sei Literatur, das Eindringen der Fiktion in die Realität, und die gute alte Parade von Boris Vian parodierend, hättest du mir gesagt, sieh mal, mein lieber Francois-Henri, diese Szene ist vollkommen wahr, weil ich sie erfunden habe.
Francois-Henri Désérable, Ein gewisser Monsieur Piekielny.
Roman. Aus dem Französischen von Sabine Herting. Verlag C.H. Beck. 254 Seiten. 22 Euro
WDR 3 Mosaik 17. September 2018