Wohl selten besaß ein Roman einen solchen Rang als historisches Dokument wie gleichzeitig ein historisches Dokument eine so überragende literarische Qualität: Das wieder aufgetauchte und nun im Original veröffentlichte Manuskript von Arthur Koestlers Roman „Sonnenfinsternis“ entstand in einer äußerst prekären Situation. Koestler schrieb daran während des Jahres 1939, in Pariser Hotelzimmern, auf der Flucht vor den Nazis, dann, nachdem ihn die Franzosen als unerwünschten Ausländer verhafteten, in deren Internierungslager Le Vernet in den Pyrenäen. Noch während er den Text in die Maschine hämmert, übersetzt ihn seine Freundin Daphne Hardy Seite für Seite ins Englische, denn an ein Erscheinen auf Deutsch glaubt Koestler nicht mehr. – Doch nicht nur wegen dieser dramatischen Entstehungsgeschichte ist das Manuskript ein einzigartiges historisches Dokument. Sondern auch wegen der nicht weniger dramatischen persönlichen und politischen Situation, in der Koestler sich während seiner Entstehung befand: Seit 1931 war er Mitglied und dann auch Funktionär der KPD und machte in den nächsten Jahren deren Wandlung zur stalinistischen Kaderpartei mit. Erst im April 1938, knapp ein Jahr vor Beginn der Niederschrift, bricht er mit ihr und tritt aus.
„Die Partei kann sich nicht irren“, sagte Rubaschow. „Du und ich, wir können uns irren – die Partei nicht. Die Partei, Genosse, ist mehr als du und ich und tausend andere wie du und ich. Die Partei ist die Verkörperung der revolutionären Idee in der Geschichte. Die Geschichte kennt kein Schwanken und keine Rücksichten. Sie fließt, schwer und unbeirrbar, auf ihr Ziel zu. An jeder Krümmung lagert sie Schlamm und Schutt und die Leichen der Ertrunkenen ab. Aber – sie kennt ihren Weg. Die Geschichte irrt nicht.“
Rubaschow, der „Held“ von „Sonnenfinsternis“, sitzt in einer Gefängniszelle und erinnert sich an seine „Parteiarbeit“: Ein wenig ist er der Widergänger Koestlers. Vor allem aber ist er ein Widergänger der Tausende Revolutionäre der ersten Stunde und der Parteiarbeiter beim Aufbau der Sowjetunion, die in den sogenannten Moskauer Prozessen von 1936 bis 1938 dem Terror Stalins zum Opfer fielen. – Im Roman bearbeiten zwei Politkommissare Rubaschow in pausenlosen Verhören, wollen ihn zum Eingeständnis seiner Schuld zwingen, ein Attentat auf die „Nummer eins“, Stalin also, vorbereitet zu haben. Die Anklage ist vollkommen absurd. – Doch ist „Sonnenfinsternis“ keine platte Abrechnung mit dem Stalinismus. Hier wird kein Opfer mit der Unmenschlichkeit des stalinistischen Apparates konfrontiert. Denn Rubaschow ist kein Opfer. Er ist ein Täter, ein Apparatschik, der für die Parteidisziplin viele seiner Genossen, selbst seine Geliebte, über die Klinge springen ließ. Und er ist ein Täter, der sich seiner Schuld bewusst ist.
Unsere Prinzipien waren alle richtig, aber unsere Resultate waren alle falsch. Das ist ein krankes Jahrhundert. Wir erkannten die Krankheiten und ihre Struktur mit mikroskopischer Schärfe, aber wo wir das Messer ansetzten, um zu heilen, entstand bloß ein neues Geschwür. Unser Wollen war hart und rein, die Menschen sollten uns lieben. Aber sie hassten uns. Warum sind wir hassenswert?
Die literarische Qualität von „Sonnenfinsternis“ ist eng mit dem hohen Reflexionsniveau seines Autors verbunden. Er mutet dem Leser kein Bekenntnisstück zu, verweigert seinem Helden eine Wandlung vom Saulus zum Paulus. Rubaschoff schwört weder der Revolution noch dem Sozialismus ab. Er bleibt ein Mensch des frühen 20. Jahrhunderts, gefangen in seiner Ideologie. In den schlaflosen Nächten zwischen den Verhören setzt er seine individuelle Schuld ins Verhältnis zu den „historischen Notwendigkeiten“ beim Aufbau des Sozialismus. Koestler macht daraus einen intellektuellen Politthriller. Atemlos verfolgt der Leser Rubaschows langes Schwanken, ob er auf das Angebot der Politkommissare, ein Geständnis abzulegen, eingehen soll. Als er schließlich kapituliert und öffentlich seine absurde Schuld bekennt, tut er es mit dem Willen, damit der Partei einen letzten Dienst zu erweisen. Doch gleichzeitig ist ihm bewusst, damit wieder so falsch zu handeln wie bisher, kann aber nur ahnen, was daran falsch gewesen war.
Wie hatte er einst in sein Tagebuch geschrieben: „Wir haben alle Konventionen und Normen der Moral über Bord geworfen und stehen unter dem alleinigen Zwang der logischen Konsequenz; wir fahren ohne ethischen Ballast…“ – Vielleicht lag hier der Kern des Übels. Vielleicht war es der Menschheit nicht bekömmlich, ohne Ballast zu fahren. Und vielleicht war die Vernunft allein ein unzureichender Kompass, der so lange auf gewundenem und umwegigem Kurs führt, bis sich das Ziel gänzlich im Nebel verlor. Vielleicht kam jetzt die Zeit der großen Finsternis.
Arthur Koestler, Sonnenfinsternis. Roman. Nach dem deutschen Originalmanuskript. Vorwort von Michael Scammell. Nachwort von Matthias Weßel. Elsinor-Verlag. 256 Seiten. 28 Euro
WDR 3 Mosaik 6. August 2018