Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard, Der Schiffbruch der Fregatte Medusa. Mit einem Vorwort von Michel Tournier, einem Nachwort von Johannes Zeilinger und einem Bildessay zu Théodore Géricaults „Das Floß der Medusa“ von Jörg Trempler. Verlag Matthes&Seitz 2018. 264 Seiten. 26,00 €
Kein anderes Sujet des 19. Jahrhunderts ist der derzeitigen Debatte über die Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge näher als das des Floßes der Fregatte Medusa. Zuletzt nämlich gipfelte der sich immer mehr von allen moralischen Normen entfernende Diskurs über die europäische Flüchtlingspolitik tatsächlich in der Frage: Muss man das denn überhaupt, in Seenot geratene Menschen retten? Eben diese Frage wühlte auch vor 200 Jahren die Öffentlichkeit auf angesichts des Schicksals der Schiffbrüchigen der Medusa.
Bei einer Parisreise im September 1938 stieß Peter Weiß zufällig auf das Büchlein, das den Maler Théodore Géricault zu seinem berühmten Gemälde inspiriert hatte. „Der Schiffbruch der Fregatte Medusa“ von Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard. – Weiß las es in einer Nacht und schrieb später dazu in seiner „Ästhetik des Widerstandes“:
„Aus der vereinzelten Katastrophe war das Sinnbild eines Lebenszustandes geworden. Der Leser, der sich Achtzehnhundert Siebzehn in das eben erschienene Buch vertiefte, sah, wie sich hier die Epoche entfaltete, in der er lebte, aus Engstirnigkeit, Selbstsucht und Habgier sah er ein Imperium mit provinziellen Zügen emporwachsen, die Profiteure sah er, und deren Opfer.“
Savigny und Corréard, die Verfasser des ein Jahr nach dem Schiffbruch veröffentlichten Berichts, zählten zweifellos zu den Opfern. Denn sie gehörten zu den 150 Schiffbrüchigen, die nach dem Bersten der Medusa vor der westafrikanischen Küste auf einem Floß ausgesetzt wurden. Diese wie auch die übrigen Rettungsaktionen der insgesamt 400 Passagiere stellen sich als ein äußerst dilettantisches Unterfangen dar. Bereits das Auseinanderbrechen der Fregatte auf einer Sandbank war die Folge der nautischen Unfähigkeit des Kapitäns und seiner Berater. Nun aber, bei der Versorgung der Schiffbrüchigen, kam der unfassbare Egoismus der Verantwortlichen hinzu. Von den bloß sechs zur Verfügung stehenden Rettungsbooten beanspruchten sie die besten für sich und ihre Entourage. Obwohl reichlich Platz war, ließen sie andere Schiffbrüchige nicht an Bord, um die Manövrierfähigkeit ihrer Boote zu sicherzustellen. Das Floß für diejenigen, die nicht mehr in die übrigen Boote passten, erwies sich als eine glatte Fehlkonstruktion.
„Die Maschine stand wenigstens einen Meter unter Wasser; wir waren so aneinander gepresst, dass keiner einen Schritt tun konnte. Vorn wie hinten ging uns das Wasser bis über die Hüften. In dem Augenblick, wo wir von der Fregatte abstießen, gab man uns noch 25 Pfund Zwieback in einem Sack. Er fiel ins Meer, wir zogen ihn mit Mühe heraus; es war nur noch ein Teig.“
Kaum legt das manövrierunfähige Floß vom Schiff ab, überlassen der Kapitän und der zukünftige Gouverneur der Kolonie Senegal, für deren Gründung die Reise unternommen wurde, das Fahrzeug und seine Besatzung sich selbst. Auch später, nachdem sie in Afrika gelandet sind, kümmern sie sich nur halbherzig und widerwillig – und viel zu spät um deren Schicksal. Die Frage, ob man Schiffbrüchige ertrinken lassen kann, hatten sie für sich schon längst beantwortet. Und konnten sich mit dem billigen Trost herausreden, dass für das eigene Überleben ab und an Opfer, auch Menschenopfer, gebracht werden müssen.
Vor dieser Entscheidung standen allerdings auch die 150 Männer auf dem Floß. Und sie trafen sie so brutal wie nur möglich. Drei Tage dauerten die Kämpfe, die Savigny und Corréard beschönigend als „Meuterei“ bezeichnen. Es ging darum, Platz auf dem viel zu kleinen Floß zu schaffen. Diejenigen, die über die besseren Waffen verfügten, nämlich die Offiziere der künftigen Kolonialarmee, töteten in dem Gemetzel die übrigen, die einfachen Soldaten. Savigny und Corréard, der eine Schiffsarzt, der andere Geograf im Dienst der Regierung, gehörten zu den Überlebenden. – Es waren nicht die letzten Grausamkeiten auf dem Floß. Schon sehr früh, nämlich erst vier Tage nach dem Schiffbruch, entschlossen sie sich zum Kannibalismus und verzehrten die Leichen der Getöteten. Und eine Woche später, es waren nur noch achtundzwanzig Männer übrig, glaubten sie, dass der Wein, außer Menschenfleisch das einzige Lebensmittel an Bord, nur noch für die fünfzehn kräftigsten unter ihnen reichte, an die Schwächsten aber verschwendet sei.
„Nach einer Beratschlagung, wobei die grässlichste Verzweiflung die Stimme führte, wurde beschlossen, sie ins Meer zu werfen. Drei Matrosen und ein Soldat übernahmen diese Greueltat; wir wendeten den Blick ab und weinten blutige Tränen über das Los dieser Unglücklichen. Dieses schmerzhafte Opfer rettete die fünfzehn Übriggebliebenen.“
Dass die Geschichte vom Floss der Medusa das Sinnbild für die Brüchigkeit der Zivilisation ist, war den zeitgenössischen Lesern des Berichts und Betrachtern des Gemäldes von Géricault vollkommen klar. Für heutige Zeitgenossen ist es vielleicht ein wenig schwerer, in den abgewiesenen Rettungsbooten mit Flüchtlingen auf dem Mittelmeer ein Sinnbild für die von Peter Weiß zitierte Engstirnigkeit, Selbstsucht und Habgier des westlichen „Imperiums“ zu sehen. Hielten sie die beiden Bilder übereinander, klärte sich vielleicht der Blick.
WDR 3 Mosaik 2.August 2018