Vicki Baum, Menschen im Hotel. Roman Kiepenheuer & Witsch Paperback 2018. 399 Seiten. 9,99 Euro
Ursprünglich trug Vicki Baums 1929 erschienenes Buch „Menschen im Hotel“ den Untertitel „Kolportageroman mit Hintergründen“. Das war ironisch gemeint. Denn der Begriff „Kolportage“ deutete damals auf Literatur einer niederen Gattung, auf Fortsetzungsroman und Groschenheft hin. Zwar erschien „Menschen im Hotel“ tatsächlich auch zunächst in Fortsetzungen in der „Berliner Illustrirten Zeitung“; doch verfolgten die Autorin wie ihr Verlag mit dem Buch durchaus die Absicht, der Kolportageliteratur der damaligen Zeit ein anspruchsvolles Pendant auf der literarischen Höhe der Zeit entgegenzusetzen. Die Anspielung auf die „Kolportage“ war ein Werbetrick des Ullstein-Verlags. „Menschen im Hotel“ ist wohl der erste deutsche Roman, der mit werbestrategischem Kalkül in den Markt – und zu einem Bestseller – gepuscht wurde. Zur Marktstratiegie gehörten auch Reportagen über die damals am Anfang ihrer Karriere stehende Autorin, heute würde man sie „Homestories“ nennen. – Vicki Baum hatte einiges zu bieten. Die erfolgreiche Konzert-Harfenistin avancierte, seit sie Anfang der 20er Jahre ins Journalisten-Fach wechselte und Redakteurin in Ullsteins Lifestyle-Magazinen wurde, zum Prototyp der zielstrebigen „modernen Frau“. Unabhängig vom Einkommen ihres Mannes, eines Musikers, managte sie souverän Job, Kinderbetreuung und einen mondänen Haushalt.
Ich stand früh auf und besprach alle Haushaltsfragen mit meinem Dienstmädchen. Wir wohnten nahe den Grunewaldseen, und in der warmen Jahreszeit fuhren wir nach einem leichten Frühstück allesamt hinaus, um rasch ein paar Stöße zu schwimmen. Dann brachten wir, mein Mann und ich, die Kinder zur Schule. Darauf fuhren wir in die Stadt – ich in die Redaktion, mein Mann zum Opernhaus.
Ähnlich mondän geht es im Berliner „Grand Hotel“, dem Schauplatz ihres Romans, zu. Auf den ersten Blick jedenfalls. Hier kreuzen sich die Wege der weltberühmten russischen Primaballerina Grusinskaja und des schönen jungen Barons von Gaigern; der bräsige Fabrikdirektor Preysing macht die Bekanntschaft einer „Flämmchen“ genannten hübschen Sekretärin, er trifft allerdings auch auf einen seiner Angestellten, den Hilfsbuchhalter Kringelein. Der ist krebskrank, hat nur noch wenige Wochen zu leben und will seine bisher so kümmerliche Existenz in Saus und Braus beschließen. Dabei ist ihm der schöne Baron behilflich, hat es aber nur auf dessen Geld abgesehen. Denn bis auf Kringelein ist hier niemand der, als den er sich ausgibt. Der charmante Baron erweist sich als Hochstapler und Dieb, die Primaballerina kämpft verzweifelt mit ihrem Alter, der Fabrikdirektor Preysing wird sich durch einen plumpen Betrug und eine Affäre mit der Sekretärin ruinieren, für die er ihr tausend Mark geboten hat. Und die wiederum rechnet kühl den Nutzen ihrer Prostitution gegen die Kosten auf .
Sie hatte eine umfangreiche Bilanz zu machen. Der Verzicht auf das angefangene Abenteuer mit dem hübschen Baron stand darin, Preysings schwerfällige fünfzig Jahre, sein Fett, seine Kurzatmigkeit. Kleine Schulden da und dort. Bedarf an neuer Wäsche, hübsche Schuhe – die blauen gingen nicht mehr lange. Das kleine Kapital, das notwendig war, um eine Karriere zu beginnen, beim Film, bei der Revue, irgendwo. Flämmchen überschlug sauber und ohne Sentimentalität die Chancen des Geschäfts, das ihr angeboten wurde.
„Menschen im Hotel“ ist ein der literarischen Moderne, der „Neuen Sachlichkeit“ der 1920er Jahre verpflichteter Roman, durchaus vergleichbar mit den Werken von Vicki Baums Zeitgenossen Irmgard Keun, Erich Kästner und Lion Feuchtwanger. Was den Stil und die literarischen Techniken angeht, bewegt sich die Baum mit ihnen durchaus auf Augenhöhe, ist ihnen in einigem sogar voraus, etwa, wenn sie Elemente der Filmsprache verwendet, mit Überblendungen, raschen Szenen-Schnitten und Cliffhangern arbeitet. Modern ist ihr Roman auch, weil sie sich nicht auf einen einzelnen Helden konzentriert, sondern – einer der ersten „Gruppenromane“ überhaupt – eine Gruppe von Menschen porträtiert, deren Geschichten dabei in- und gegeneinander schneidet und damit den rasenden Puls ihrer Zeit einfängt, deren Abgründe dabei keineswegs ausspart. Man liest diesen Roman in einem Zug – und mit sehr viel Rührung. Denn, und das ist dem Geist der Zeit, aber vor allem seiner markgerechten Konzeption geschuldet: Er ist nicht nur ein sentimentaler, sondern ein gezielt aufs Sentiment des Lesers zielender Roman. Graham Greene schrieb 1931 in seiner Kritik: „Oberflächlich, melodramatisch, sentimental, aber technisch vollendet.“ Vollendet sind auch die Berlin-Szenen, mit denen Vicki Baum ihren Roman spickt und die ihn neben den im gleichen Jahr erschienenen, wenn auch weit avantgardistischeren „Berlin Alexanderplatz“ Alfred Döblins zu einem großen Berlin-Roman machen. Etwa die, in der der schöne Baron mit dem verschreckten Kringelein über die Avus rast.
Gaigern hatte die Finger voller Ungeduld, sie prickelte wie Kohlensäure zwischen seinen Händen und dem Steuer. An den Straßenkreuzungen hingen rote, grüne, gelbe Lampen, standen Schupoleute und drohten ihm halb lachend mit dem Arm. Vorbei an Obstwagen, Plakatwänden. Die Sonne war feucht und gelb auf dem Asphalt. Wenn ein schwerfälliges Autobustier den Weg verlegte, dann schrie der kleine Viersitzer mit zwei Hupen: Wie ein Gebell von gereizten Hunden klang es. – Kringelein starrte Berlin an, das zu Streifen gezerrt an dem Wagen vorbeirannte.
WDR 3 Mosaik 18. Juni 2018