Ernst Ottwalt, Denn sie wissen was sie tun. Ein deutscher Justizroman. (1931). Verlag Das kulturelle Gedächtnis. 2017. 363 Seiten. 25,00 Euro
Landgerichtsrat Doktor Friedrich Wilhelm Dickmann verfügt über eine frische Gesichtsfarbe, runde Backen, zwei wulstige Nackenfalten und ein unerschütterlich ruhiges Gewissen. Das beruht zum einen darauf, dass er sich schon lange abgewöhnt hat, über Dinge nachzudenken, die nicht zu ändern sind. Und zum anderen auf seiner Bescheidenheit. Er weiß, dass er kein Christus, sondern nur ein schlichter Diener des Rechtes ist. Und weil das Recht für Diebstahl nun einmal eine Freiheitsstrafe vorsieht, verurteilt Doktor Friedrich Wilhelm Dickmann als Vorsitzender der kleinen Strafkammer des Berliner Kriminalgerichts den arbeitslosen Schlosser May wegen Diebstahls einer Wurst zu sieben Monaten Gefängnis. Obwohl Doktor Dickmann weiß, dass May Hunger, seit Tagen nichts Richtiges mehr gegessen hatte. Aber dass die Arbeitslosen im Krisenjahr 1928 Hunger haben, das gehört nun einmal zu den Dingen, die nicht zu ändern sind. Und deshalb denkt Doktor Dickmann auch nicht darüber nach und wendet in aller Bescheidenheit nur das Recht an.
So führt Ernst Ottwalt in seinem 1931 geschriebenen Roman seinen „Helden“ ein. Darin schildert er dessen Laufbahn vom Jurastudenten bis zu seiner ersten Bestallung als Amtsgerichtsrat. Die erste Lektion über das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit erhält Dickmann in der Burschenschaft. Dort belehrt ihn ein Kamerad aus dem Schlagenden Corps Markomannia:
Gleichheit vor dem Gesetz? Blödsinn. Dann würde also Herr Borgmeyer oder Herr von Schnurrbein jedem Lausejungen gleich zu achten sein, der silberne Löffel stiehlt oder Blutschande treibt, was? Ne, mein Lieber, die Sache ist ganz anders: Es gibt Menschen, die sind dem Gesetz Untertan. Das Gesetz ist für sie da und gegen sie, und das geht in Ordnung. Dann gibt es aber auch Menschen, die wenden das Gesetz an. Die müssen sich natürlich von den anderen irgendwie unterscheiden, sonst könnten sie am Ende von einem Polizisten mit einem Lausejungen verwechselt werden. Das Unterscheidungsmerkmal sind eben die Schmisse. Und ihr tut gut daran, dass ihr auch bald auf Mensur kommt, damit ihr vor derartigen peinlichen Verwechslungen geschützt seid.
Diese als Scherz gemeinte Beschreibung des Verhältnisses zwischen Recht und Gerechtigkeit erweist sich im Laufe der weiteren Ausbildung Friedrich Wilhelm Dickmanns zum Juristen als das Muster für die Praxis der Rechtsprechung in der Weimarer Republik. Während seiner Referendariatsausbildung in der Staatsanwaltschaft lernt er, dass dort tatsächlich zweierlei Maß gelten: Die – rechtsradikalen, aber überwiegend akademischen – Teilnehmer am Kapp-Putsch von 1920 etwa kommen mit milden Strafen und Freisprüchen davon, obwohl sie vielfach mordeten. Wegen Bagatellen, meist Eigentumsdelikten straffällig gewordene Arbeitlose dagegen erfahren die ganze Härte des Gesetzes, weil man, wie sein ausbildender Staatsanwalt meint, die Gesellschaft vor „solchen Minderwertigen schützen muss.“ Solche Einübung in die Klassenjustiz wird manchmal auch Dickmann zuviel, wenn er zusehen muss, wie jemand wegen Diebstahls einer Pferdedecke zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt wird:
Dickmann schämt sich. Er schämt sich der erdrückenden Übermacht, mit der der Staat und die Gerechtigkeit gegen den Arbeiter Max Holle zu Felde zieht. Da steht der Bursche in der Anklagebank, stiert vor sich hin. Um ihn ein leerer Raum. So einsam wie draußen im Leben ist er auch hier im Gerichtssaal.
Ernst Ottwalt, dem Autor dieses „Justizromans“, ist von den Zeitgenossen, allen voran von Georg Lukács, sein an der Reportage orientierter Stil und die satirische Überzeichnung seiner Charaktere vorgeworfen worden. Selbst Kurt Tucholsky hielt den Roman in seinem gönnerhaften Lob von 1932, für eine „recht beachtliche Sache – weniger als künstlerische Leistung denn als gute Hilfe im Kampf gegen diese Justiz.“ Und wie Lukács meint auch Tucholsky dem Autor den Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts als Beispiel vorhalten zu müssen. Diese Kritik verkennt den an der zeitgenössischen „Neuen Sachlichkeit“ orientierten Stilwillen des Autors Ottwalt. Wie etwa Erich Kästner oder Irmgard Keun in ihren „Zeitromanen“ geht es auch Ottwalt weniger um die inneren Erlebnisse seiner Charaktere als vielmehr darum, die sie umgebende Wirklichkeit so nüchtern und objektiv wie möglich darzustellen. Natürlich schreibt Ottwalt nicht wie Stendahl oder Flaubert, seine Sprachmacht ist vergleichsweise gering. Auch sind seine meist holzschnittartig gezeichneten Charaktere eher Klischees als lebendige Figuren. Und doch macht er aus seinem „Helden“ Dickmann nicht einfach nur einen Pappkameraden. Dickmann erfährt durchaus eine Entwicklung, gerät in Gewissenskonflikte, lernt zwischendurch sogar auch, seine Vorurteile zu hinterfragen, zum Beispiel, als er sich in eine jüdische Kollegin verliebt, die ihm die Augen über die gegen Gewerkschafter und Kommunisten gerichteten Klassenjustiz zu öffnen versucht. Doch am Ende entscheidet sich Dickmann für eine Karriere in dieser Justiz und wird zu einem Teil des Justizapparats, der mit dazu beitrug, dass die erste deutsche Republik scheiterte.
Es lohnt sich deshalb immer noch, dieses Buch zu lesen. Denn in ihm lernen wir sehr detailliert diesen Apparat und hautnah diejenigen seiner Protagonisten kennen, die bald das Personal der Terrorjustiz in der Nazidiktatur stellen werden. Und damit auch jene „furchtbaren Juristen“, die in der zweiten Deutschen Republik lange noch ihr Unwesen trieben.
WDR 3 Gutenbergs Welt 11. Februar 2018